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# taz.de -- Die Kunsttipps der Woche: Zerfall von Geist und Welt
> Dekonstruktionen gängiger Bilder von psychischen Störungen im Acud
> Kunsthaus, düstere Vorahnung in den Fotografien von Jamie Diamond.
Bild: Ansicht: „Sieben Avant-Garden – Sieben Utopien“
Der Aufstand der Schlafenden gegen den massiven Angriff der Gesellschaft an
den Schlaf – schon die Idee von Barbora Kleinhamplovás wunderbarem
„Sleeper’s Manifesto“ kann man sich in einem Moment eigener Ermattung zu
Gemüte führen.
Das [1][Video von 2014] zeigt langsame zehn Minuten mit Aufnahmen von
Schlafenden, von auf Bänken und Kartons durch die Lohnarbeit vollkommen
erschöpft weggenickten Menschen, die einen globalen Effekt (oder Infekt?)
unseres liberalen Arbeitsmarkts abzubilden scheinen.
[2][Die Acud Galerie] stellt die Video- und Installationsarbeiten der
tschechischen Künstlerin mit denjenigen der Britin Sophie Hoyle gegenüber.
Nun hängen Hoyles Zeichnungen von menschlichen Organen auf der einen Seite
des Raumes, während auf der anderen Seite Kleinhamplovás 3D-Simulationen
ebensolcher Organe langsam auf einer Reihe von Bildschirmen rotieren.
Beide Künstlerinnen dekonstruieren in „It’s not your fault“ – so [3][d…
Titel der von Paula Durinova kuratierten Ausstellung] – mit ihren
multimedialen Arrangements das weit verbreitete Bild von psychischen
Störungen als rein persönliches Problem. Vielmehr zeigen sie diese als
Symptome einer auf Optimierung getrimmten Gesellschaft auf.
Eine düstere Vorahnung zeichnet sich auf den Fotografien eines zufällig
gefundenen Familienalbums von 1938 ab. Großformatige Abzüge daraus hängen
von der Decke des historischen Umspannwerks in Moabit, in dem Kewenig
[4][seinen zweiten Berliner Standort hat].
Die Fotografin Jamie Diamond stellte die historischen Szenen aus dem ersten
Berliner Lebensjahr eines Kindes kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
nach und überblendet mit den zeitgenössischen Aufnahmen aus ihrem Leben das
Original.
Über die stolzen Kamerablicke der anonymen Mutter legt sie ihren eigenen,
die wenig definierten Gesichtszüge eines Babies unter Rüschenhut und
Korbwagen, bringt sie mit den darüber gelegten Aufnahmen ihres Kindes in
geisterhafte Unschärfe. Der Zerfall der Welt in Totalitarismus und Krieg,
der zwischen diesen zwei Zeitebenen stattfindet, wirkt in diese Bilder ein.
Die 1983 geborene New Yorkerin Jamie Diamond ist eine von vielen Künstler:
innen, die im Rahmen des Gallery Weekend Discoveries erstmals in einer
Berliner Galerie gezeigt werden. Und mit Henni Alftan bei Sprüth Magers,
Mara Wohnhaas bei BQ, Megan Marrin und Claudia Hill bei Efremidis oder
Daniel Hölzl bei Dittrich & Schlechtriem sind viele interessante, hier
bislang kaum bekannte Positionen dabei.
Ob Asger Jorn wohl auch eine dunkle Vorahnung hatte, als er 1962 ein
Portrait des Documenta-Leiters und späteren Gründungsdirektors der Neuen
Nationalgalerie Werner Haftmann malte? „Dichter & Denker“ benennt er sein
abstraktes und eher ins Monsterhafte geratene Konterfei des
Kunsthistorikers, dessen seit 2019 sukzessive hervorkommenden Details aus
der NS-Zeit vermuten lassen, dass der große Vermittler der abstrakten und
expressionistischen Kunst der Moderne in der Nachkriegszeit damit auch eine
frühe Form des art washings seines eigenen braunen Lebenslaufs betrieben
hat.
Dies ist wohl die politische Entdeckung in der EAM Collection, auf die man
jetzt zur Berlin Art Week aufmerksam werden konnte. Es gibt aber auch
künstlerische Entdeckungen, für die sich ein Besuch in die privaten
Charlottenburger Räumlichkeiten sehr lohnt: Die Sammlung hat sich einer
politischen Kunst aus dem Paris der 1950er und 1960er Jahre verschrieben,
den Wort- und Buchstabenspielen der Lettristen, den gesellschaftlichen
Zustandserfassungen der Affichisten, den künstlerischen Vor- und Mitdenkern
der Situationisten (eine Ausgabe von Guy Debords „guide psychographique de
Paris“ liegt auch aus).
Eine wunderbare, in Berlin ganz ungewöhnliche Kollektion an Malereien,
Postern, Publikationen oder Textarbeiten für und von den Straßen der Stadt.
21 Sep 2021
## LINKS
[1] https://vimeo.com/83172076
[2] http://www.acud.de/
[3] https://acudmachtneu.de/
[4] https://kewenig.com/
## AUTOREN
Sophie Jung
## TAGS
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