# taz.de -- „Melissa kriegt alles“ von René Pollesch: Wegen der Hühner | |
> Revolution ist nur noch Folklore. René Pollesch eröffnet die Spielzeit am | |
> Deutschen Theater Berlin mit frischer Lüftung und Schauspielstars. | |
Bild: Kathrin Angerer, Martin Wuttke (hinten), Bernd Moss und Jeremy Mockridge … | |
Die lüftungstechnische Anlage ist umgestellt. Die gesamte Raumluft wird | |
innerhalb einer Stunde zwei- bis dreimal mit Frischluft von außen erneuert. | |
Darüber informiert die Webseite des Deutschen Theaters Berlin unter dem | |
Menüpunkt: „Ins Theater? Aber sicher!“ Man spielt wieder und sieht sich | |
vor. Jede zweite Sitzreihe ist ausgebaut, höchstens ein Viertel der | |
bisherigen Platzkapazität wird genutzt. | |
In Berlin legten am Wochenende [1][gleich mehrere große Häuser los], das | |
Staatsballett gab eine Gala in der Deutschen Oper, am Maxim Gorki Theater | |
inszenierte Hakan Savaş Mican „Berlin Oranienplatz“, die Volksbühne zeigte | |
eine Uraufführung von [2][Alexander Eisenach, „Der Kaiser von | |
Kalifornien“.] Das Deutsche Theater begann mit einem Stück von René | |
Pollesch. Überall gilt Maskenpflicht und der Zugang ist mit den | |
Hygieneregeln abgestimmt. | |
Seltsam fühlt sich das an. Zumal am Samstag die Stadt voll war mit | |
Demonstrant:innen gegen die Coronaregeln. Und man den Weg ins Theater schon | |
gut planen musste, um nicht mit Reichsdeutschen zusammenzutreffen. | |
Auf der Bühne wird dann eher die rote Fahne geschwenkt und ein zierliches | |
Muster von Hammer und Sichel prägt die Tapeten einer Guckkastenbühne, deren | |
Wände je nach Bedarf auf- und zugeklappt werden. Ab und zu fragen Martin | |
Wuttke oder Kathrin Angerer mit Bedauern in der Stimme: „Wo ist die | |
Zärtlichkeit des Kriegskommunismus geblieben?“ | |
## Russische Fellmützen und viel Revolutionsfolklore | |
Was wird gespielt? „Melissa kriegt alles“, so der Titel des Stücks, in dem | |
dieser Satz genau einmal vorkommt. Sechs Schauspieler:innen treten auf, | |
wechseln ausgiebig die Kostüme – viel russische Fellmützen und viel | |
Revolutionsfolklore ist dabei – und staunen sich an: „Siehst du toll aus.“ | |
Das hat einen bescheidenen Witz. Eine Bank soll ausgeraubt werden, durch | |
einen Tunnel aus der Pizzeria nebenan, aber der Plan für den Bankraub ist | |
zugleich die enge Zweizimmerwohnung, durch die alle trampeln (mit Abstand!) | |
und weder die Bank noch die Pizzeria finden können. | |
Das ist Nonsens und Widerspruch mit System. Denn vor allem beschäftigt sie | |
als Schauspieler:innen das Paradox, etwas darzustellen und gleichzeitig | |
dessen Gegenteil. Sie gehen dabei verschiedene Episoden der Film- und | |
Theatergeschichte durch, [3][die Pollesch schon in früheren Stücken] | |
beschäftigten: Das ist einerseits „Opening Night“ von John Cassavetes mit | |
Gena Rowlands, ein Meilenstein des amerikanischen Method Acting, die mit | |
der Authentizität des eigenen Lebens in die Rollen springt. | |
Das wird gleichermaßen bewundert wie wegen seiner Zugehörigkeit zum | |
Kapitalismus kritisiert. Andererseits geht es um das epische Theater von | |
Brecht, das eben nicht auf die Identifizierung mit der Rolle setzte, und | |
den Brechtklassiker „Mutter Courage“. Helene Weigel, berühmt in dieser | |
Rolle, habe dann aber doch die Mutterrolle in ihr Leben integriert, als | |
Mutter des Theaters, die sich um Schuhe und Kuchen für alle kümmerte, | |
stellen die Schauspieler:innen verärgert fest. | |
## Hartz IV und Bio-Eier | |
Nach etwas Drittem zwischen diesen beiden Polen des Authentischen und des | |
Verfremdeten zu suchen, bringt das diesmalige Pollesch-Team auf den Begriff | |
der Trance. Trance, so erklärt es sich Franz Beil, bedeutet | |
widersprüchlichen Anweisungen folgen: Sei sparsam wegen Hartz IV, aber | |
kaufe Bio-Eier wegen der Hühner. So steht er dann völlig blockiert im | |
Supermarkt und kommt keinen Schritt voran. | |
Und so recht voran kommen sie auf der Bühne auch nicht; aber vermutlich ist | |
das der Zustand, um dessen Ausmalung es geht; Hektik bei gleichzeitigem | |
Stillstand. Passt im Nachhinein besehen doch ganz gut zur derzeitigen | |
Befindlichkeit. Solange man aber noch im Theater sitzt, ist eher Ungeduld | |
zu spüren. Kommt da jetzt noch was oder machen die immer weiter so? | |
Springen von einer Idee zur nächsten. | |
Ach diese Stange hier, sagt Jeremy Mockridge, da erwarte ich eigentlich, | |
dass ein Feuerwehrmann auftritt, und dann rutscht er professionell die | |
Stange runter. Sie habe immer schon mal Anna Karenina spielen wollen, meint | |
Katrin Wichmann und erzählt dann von frustrierenden E-Castings, wo sie | |
allein in ihrer Wohnung spielen soll, wie die Mafia sie überfällt. | |
Bernd Moss entdeckt, dass sie die ganze Zeit in die falsche Richtung | |
gespielt haben, weil das Publikum hinter ihnen sitzt, und da sieht man in | |
Filmbildern tatsächlich dichte Publikumsreihen – ein Bild aus einer anderen | |
Zeit. | |
„Kritik ist immer genug da, aber das Wohlwollen fehlt“, sagt Martin Wuttke. | |
„Aber das ist doch ein Banküberfall“, entgegnet Kathrin Angerer. Mit | |
Wohlwollen ist man gekommen an diesem Abend, auf jeden Fall, man würde | |
gerne jubeln, alle diese Mühe in dieser schwierigen Zeit. Aber dann starrt | |
man doch etwas bedröppelt auf diese Häppchen. Mehr ist gerade nicht drin. | |
30 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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