| # taz.de -- Inszenierung in der Volksbühne Berlin: Strategien der Nichtauffüh… | |
| > In der Volksbühne Berlin inszeniert ein junges Regieteam. Diskursfetzen | |
| > fliegen und Menschen auch. Sieht alles sehr nach Pollesch aus. | |
| Bild: Antonis Antoniadis, Yasmin El Yassini und Nathalie Seiß in „Letzter St… | |
| Die Animation von Luis August Krawen ist wirklich gelungen. Erst fährt die | |
| Kamera an still stehenden Autos entlang, dann randaliert hinter der | |
| Windschutzscheibe eine junge Frau. Sie sieht der Schauspielerin Ann Göbel | |
| sehr ähnlich, nur verwandelt in eine Animationsfigur, die bald aus dem | |
| Seitenfenster klettert, und zu fliegen beginnt – über die Dächer der Autos | |
| und in den Himmel. | |
| Diese Szene sieht man in der Inszenierung „Letzter Stand I. allos autos“, | |
| die am Mittwoch in der Berliner Volksbühne Premiere hatte, in einem Video | |
| auf der Bühne. Was dieser Flug bedeuten kann, ob er ein Menetekel ist, ein | |
| christliches Symbol oder Anzeichen einer Zeit, in der die Körper überwunden | |
| sind und allein der Geist noch zählt, darüber streiten sich kurz darauf | |
| erregt Antonis Antoniadis, Nathalie Seiß und Yasmin El Yassini auf einem | |
| Balkon auf der Bühne. Wer auf Hoffnung setzte, wird enttäuscht, denn bald | |
| stürzt die Figur ab und Ann Göbel sitzt jammernd auf dem Bühnenboden. | |
| „Letzter Stand I. allos autos“ ist die erste Schauspielpremiere, die die | |
| Volksbühne in Berlin [1][unter dem neuen Intendanten René Pollesch] auf der | |
| großen Bühne zeigt, die nicht von Pollesch selbst ist. Entsprechend groß | |
| ist die Aufmerksamkeit: Zeigt sich hier eine Richtung seines Programms, | |
| welche Künstler:innen holt er ans Haus? Große Erwartungen, die dem Blick | |
| auf die Produktion von einem jungen Regieteam – Leonie Jenning, Martha | |
| Mechow – und mit jungen Schauspieler:innen – viele haben zuvor bei P14, | |
| der Jugendbühne der Volksbühne gearbeitet, nicht unbedingt gut tun. | |
| Das Stück lehnt sich an eine Erzählung von Julia Cortázar an, „Südliche | |
| Autobahn“, die von einem jahrelangen Stillstand in einem Autostau erzählt | |
| und wie sich da, wo nichts mehr geht, der Blick auf das Selbst, Wünschen | |
| und Wollen verändert. In der Coronazeit wurde die Erzählung wiederentdeckt, | |
| als Metapher des Ausnahmezustandes. Das mag der Ursprung der Inszenierung | |
| gewesen sein, allein eine gute Vorstellung von der Erzählung oder auch von | |
| den Bezügen zur Gegenwart erschließt sich aus der Aufführung kaum. | |
| ## Kluge Sätze, vielleicht, vielleicht auch nicht | |
| Das liegt zum einen an einem handwerklichen Mangel, der Text ist zu oft | |
| akustisch schwer verständlich, obwohl die Schauspieler:innen sich große | |
| Mühe geben, auf der großen Bühne durchzudringen. Das Verständnis erschwert | |
| aber auch, dass die Szenen nur selten von Handlungselementen verbunden | |
| sind, wie etwa die Flug- und die Absturzszene. Man muss sich jedes Mal erst | |
| einhören, worum es geht, aha, Kapitalismus, Kollaps, Fortschritt, Waffen, | |
| Revolution, da ist der Diskursschnipsel schon wieder vorbei. Kluge Sätze, | |
| vielleicht, vielleicht nicht. Nur selten bleibt etwas hängen wie „Die | |
| Apokalypse hatte ich mir schöner vorgestellt“. | |
| Es ist schwer, sich von den Spielweisen, dem teils exaltierten Sprechen, | |
| dem manchmal hysterischen Schreien, nicht an den Stil von Pollesch oder von | |
| Castorf erinnert zu fühlen. Und dieser Stich ins Epigonale an einem Haus, | |
| dessen Neustart unter dem Intendanten René Pollesch auch etwas bang | |
| beobachtet wird, stimmt nicht sehr froh. | |
| Die Aufführung endet mit programmatischen Sätzen, die einen direkten | |
| Anschluss an Theorie und Praxis des Theaters von Pollesch bilden: | |
| „Schließlich geht es nicht um Sichtbarkeit, sondern eine Strategie der | |
| Nicht-Aufführung. Wir sind keine Transportmittel. Wir sind Stau. Alles soll | |
| hinüber sein! Das ist ein Stück gefunden auf dem Schrott.“ Das sind | |
| eigentlich sehr große Ansagen, die noch einmal bestätigen, dass hier alles | |
| aus einer Verweigerung gegenüber einem Theater der Rollen, der Erzählungen, | |
| der Repräsentation kommt. | |
| Schaut ein Sinn um die Ecke, treten die jungen Künstler:innen die Flucht | |
| vor ihm an. Was aber bei Schauspieler:innen der Pollesch-Generation, | |
| die eine andere Theatergeschichte schon durchquert haben, einen eigenen | |
| Echoraum hat, wirkt bei den Newcomern doch eher etwas verstiegen. | |
| Der Abend bietet auch einen Soloauftritt für Silvia Rieger, seit 1985 an | |
| der Volksbühne. Das hat auch etwas von Wiedergutmachung, fühlte sie sich | |
| doch unter dem stellvertretenden Interimsintendanten Klaus Dörr ob ihres | |
| Alters geschnitten. Nun faltet sie in einer Szene ihr Können auf, unterhält | |
| sich erst mit comichafter Piepsstimme mit einer Notrufsäule, um dann | |
| flüsternd – spitzt alle die Ohren – über den Tod zu philosophieren. Das i… | |
| wie ein Schnipsel, der den Bogen zur Geschichte der Volksbühne herstellen | |
| will; und an diesem Abend ein Band der Generationen knüpft. Ein etwas | |
| ironisches, denn später zeigt sie den Jungen, wie man mit Gewehren | |
| Revolution macht. | |
| Wie sich die Volksbühne weiter entwickeln wird, darüber sagt dieser | |
| Theaterabend dann doch nicht allzu viel aus. | |
| 21 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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