| # taz.de -- Neubau Volkstheater München eröffnet: Pinke Zeiten | |
| > Der Neubau des Volkstheaters eröffnet mit Christian Stückls Inszenierung | |
| > von „Edward II“. Es ist eine neue Chance für die Münchner Kultur. | |
| Bild: Das Ensemble von „Edward II.“ ist umgeben von Pink, Schwarz und Neonl… | |
| Einige hundert Meter legen die Schauspieler an diesem Abend zu Fuß zurück – | |
| und niemand dürfte darüber tiefer erleichtert sein als | |
| [1][Volkstheater-Chef Christian Stückl]. Sekt und Schampus stehen kalt, im | |
| Bühnenraum hängt der Geruch neuer Autositze vor der ersten Probefahrt – und | |
| die funkgesteuerte Bühne tut nun doch, was sie soll: Sie dreht sich. | |
| Genauer: Das Funkloch in der Theatermitte ist behoben. Es kann losgehen. | |
| Als der Hausherr zum ersten Mal vor Publikum in dem [2][131 Millionen | |
| teuren Neubau] steht, fehlen ihm kurz die Worte. Er holt den Architekten | |
| Arno Lederer zu sich, lässt ihn erzählen und schnauft durch, vielleicht das | |
| erste Mal seit Monaten. Heute hat sein Bühnenturm die gewünschte Höhe, | |
| doppelt so hoch wie von der Stadt erst für angemessen befunden. Der Zeit- | |
| und Kostenplan wurde eingehalten, darauf sind Bürgermeister, Intendant und | |
| Architekt gemeinsam stolz. | |
| Das Volkstheater gibt den Gästen Drinks aus, meist fällt die Wahl dem | |
| Anlass und der Stadt getreu auf Prosecco. Alles ist neu und manches fast | |
| wie früher, wie vor der Pandemie, aber auch, bevor es zwischen Kultur und | |
| Stadt ordentlich krachte. | |
| ## Es gilt die 3G-Regelung | |
| Die Maskenträger unter den 600 Zuschauern sind an einer Hand abzuzählen (es | |
| gilt 3G). Man kennt sich: Neben den Bürgermeistern Dieter Reiter und Katrin | |
| Habenschaden sitzen die Kommunalreferentin Kristina Frank, der | |
| Ex-Oberbürgermeister Christian Ude, der Ex-Kulturreferent Hans-Georg | |
| Küppers und Landtagsabgeordnete wie Ilse Aigner oder der Verleger Helmut | |
| Markwort. | |
| Künstler sind gekommen, etwa die TV-Schauspielerin Michaela May und die | |
| Kammerspiel-Kollegen Barbara Mundel, Pınar Karabulut und Mehmet Sözer. | |
| Eminenzen der bayerischen Kunstszene auch, so der Ex-Intendant der | |
| Kammerspiele und des Staatsschauspiels Dieter Dorn und der Dramatiker | |
| Albert Ostermaier, der jüngst in einem Artikel geschrieben hatte, | |
| Theaterspielen in der Pandemie sei wie Sprechen mit geschlossenen Lippen. | |
| An diesem Abend teilt sich der rote Samt – und gibt den Blick frei auf eine | |
| Badewanne. | |
| Das Stück „Edward II.“ hatte Christian Stückl in den Neunzigern in den | |
| Kammerspielen auf die Bühne gebracht, wo er von 1991 bis 1996 Hausregisseur | |
| war. Nun nutzt er den Stoff von Shakespeares Rivalen Christopher Marlowe, | |
| um Akustik, Dreh- und Lichttechnik des derzeit modernsten Theaters | |
| Deutschlands vorzuführen. | |
| ## Schaum im Gesicht | |
| Umgeben von Pink, Schwarz und Neonlicht (Bühne und Kostüme: Stefan | |
| Hageneier) pusten sich Edward II. (Jan Meeno Jürgens) und sein Liebhaber | |
| Gaveston (Alexandros Koutsoulis) Schaum ins Gesicht. Um sie tobt das | |
| Ränkespiel der Hofgesellschaft, angeführt vom homophoben Bischof (Pascal | |
| Fligg), der ausstaffiert ist wie Barry Humphries’ Klamaukfigur Dame Edna. | |
| Gaveston wiederum sieht aus wie ein Zwilling des Tiktok-Influencers Theo | |
| Carow. Er tritt erst in Männerklamotten auf, dann im Tülltutu. Sein | |
| Oberkörper ist in ein Trichterkorsett geschnürt, wie es Jean-Paul Gaultier | |
| in den Neunzigern Madonna auf den Leib geschneidert hat. | |
| Als Staatsfeind wird er in die Verbannung geschickt, zurückgeholt, auf der | |
| Flucht halbtot geprügelt und von Edwards frustrierter Gattin Isabella (Liv | |
| Stapelfeldt) und dem bigotten Pfaffen in einer Nacht-und-Nebelaktion | |
| ermordet. Edward erwischt es kurz danach. Die Drehbühne ermöglicht | |
| temporeiche Bildfolgen ohne Zwischenvorhang, die Schauspieler laufen von | |
| Szene zu Szene. Licht und Klang stützen rasante Stimmungswechsel, die | |
| Lüftung saugt Trockennebel und letzte coronabedingte Sozialphobien in | |
| Sekunden aus dem Bühnenraum. | |
| ## Engagement bei Aktion „#ausgehetzt“ | |
| Es ist ein großer Neubeginn für den 59-jährigen Stückl, der seinen Vertrag | |
| 2018 bis Spielzeitende 2024/25 verlängert hat. Seit 2002 steht er dem | |
| Volkstheater als Intendant vor. Das Haus in der Brienner Straße hatte er | |
| auf eine Auslastung von 80 Prozent gebracht. | |
| Selbstverständlich war sein Bekenntnis zu München nicht: Nach der Aktion | |
| „#ausgehetzt“, bei der sich Stückl mit dem Ex-Kammerspiel-Intendanten | |
| Matthias Lilienthal gegen menschenfeindliche Äußerungen einzelner | |
| CSU-Politiker wandte, hatte die CSU-Stadtratsfraktion | |
| dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen gegen das politische Engagement | |
| städtischer Theater geprüft. Der damalige SPD-Kulturreferent Hans-Georg | |
| Küppers hatte die Sache hingebogen – und der Kunst den Rücken gestärkt. | |
| Ob es dem Volkstheater deshalb leichter fällt, die Lage in Gehweite des | |
| Rathauses aufzugeben? Nicht nur. Seit den Achtzigern war es Mieter gewesen | |
| in dem Gebäude, das als Sporthalle des Bayerischen Fußball-Verbands gedacht | |
| war. Nachdem Gutachter die Sanierung auf 50 Millionen Euro taxiert hatten, | |
| machte München den Weg frei für den Neubau – und vollendete nach der | |
| Isarphilharmonie das zweite kulturelle Millionenprojekt der | |
| Pandemiezeit. | |
| Umso spannender bleibt aber, wie das Theater das Schlachthofviertel in den | |
| kommenden Jahren bespielen wird: Die Nobelnachbarschaft und das gesetzte | |
| Publikum der Altstadt, das in Premieren gesellschaftliche Verpflichtungen | |
| sieht, hat es gegen einen jungen, alternativen, politisch und künstlerisch | |
| interessanten Resonanzraum getauscht, der vieles erwarten lässt – nur keine | |
| Ruhe. | |
| 18 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Johanna Schmeller | |
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