# taz.de -- Theaterintendant über Lockdown-Folgen: „Wir brauchen mehr Klarhe… | |
> Mit dem Lockdown kommen wir noch klar, doch was passiert danach? | |
> Christian Stückl, Intendant des Münchner Volkstheaters, über die | |
> Theaterszene. | |
Bild: „Ich möchte jetzt kein Politiker sein“: Theaterintendant Christian S… | |
taz: Herr Stückl, die Intendanten von zehn bayerischen Bühnen haben am 23. | |
Oktober in einem offenen Brief an Ministerpräsident Söder die Wichtigkeit | |
des Theaterspielens betont. Gab es darauf eine Reaktion? | |
Christian Stückl: Nein, denn gleich darauf haben sich die Ereignisse | |
überschlagen. Vor einer Woche ging es noch um Markus Söders Verfügung, dass | |
ab einem Inzidenzwert von 100 nur noch 50 Zuschauer ins Theater dürfen. | |
Wir hatten alle [1][unsere Hygienekonzepte,] haben Stuhlreihen ausgebaut, | |
Abstände eingehalten und das Publikum aufgefordert, auch während der | |
Vorstellung Masken zu tragen – wir haben eigentlich alles richtig | |
gemacht,und trotzdem hat man uns diese völlig beliebige Zahl präsentiert, | |
und die war für uns alle viel zu klein. Gegen diese riesige Ungerechtigkeit | |
waren wir sogar zu klagen bereit. Aber darauf hat die Politik nicht | |
reagiert, weil sie natürlich schon wusste, dass der nächste Schritt kommt. | |
Der nächste Schritt ist der sogenannte Lockdown light ab jetzt, dem 2. | |
November. Wie fühlt der sich für Sie an? | |
Ich möchte im Moment kein Politiker sein. Wenn Virologen Alarm schlagen, | |
will man nicht verantwortlich sein, wenn die Krankenhäuser voll sind. Auch | |
wir Künstler sehen ja, dass die Zahlen raufgehen. Angela Merkel hat | |
irgendwann gesagt, bis Weihnachten sind wir bei 20.000 Infizierten pro Tag, | |
und da sind wir jetzt schon fast. | |
Wir könnten mit dem Lockdown umgehen und sagen: „Okay, wir müssen alle | |
Verantwortung übernehmen und einen Monat zumachen.“ Aber für die Zeit | |
danach bräuchten wir Klarheit: Geht es ab Dezember mit 50 Zuschauern | |
weiter, mit maximal 200 wie zuvor oder gar nicht? Da ist einfach wahnsinnig | |
viel ungeklärt. | |
Eigentlich ist noch nicht mal ganz klar, ob man weiter proben kann, oder? | |
Wir gehen davon aus, dass nur der Zuschauerraum geschlossen ist. Wir werden | |
uns das Arbeiten nicht erneut verbieten lassen, und wenn sie mich aus dem | |
Theater raustragen müssen. Wir großen Theater sind ja in keiner so | |
schwierigen Situation; wir werden vom Staat oder von der Stadt aufgefangen, | |
und da kann unser Ministerpräsident zu Recht sagen: „Euch gibt’s hinterher | |
auch noch!“ | |
Aber er sieht nicht die vielen, vielen kleinen Bühnen, freiberuflichen | |
Schauspieler, Musiker, Veranstaltungstechniker bis hin zu den Journalisten, | |
die über Kunst und Kultur schreiben und diesen Rückhalt nicht haben. Hier | |
entsteht der größte Schaden. Mit einer einmaligen Zahlung von 75 Prozent | |
des letzten Novemberumsatzes ist es ja nicht getan. | |
Die verordnete Schließung lässt sich auch als Misstrauensvotum lesen. | |
Besteht nicht auch die Gefahr, dass jetzt das Vertrauen des Publikums | |
wieder zerstört wird, das man in den letzten Wochen und Monaten mühsam | |
wiederaufgebaut hat? | |
Das ist eigenartig. Ich war gerade an der Kasse, und die Leute wollen ihre | |
Karten gar nicht zurückgeben, sondern lieber schon den Spielplan für | |
Dezember sehen. Die drängt es ins Theater, und trotzdem glaube ich, dass es | |
auf die Dauer einen Entwöhnungseffekt gibt. Viele sind jetzt verängstigt | |
und schauen lieber Netflix, und wir werden viel tun müssen, um sie wieder | |
zurückzulocken. | |
Wir werden lange brauchen, bis wir auch nur annähernd die Auslastungszahlen | |
der letzten Jahre erreichen. Und auch das ist für die Großen immer nochmal | |
einfacher [2][als für die Kleinen.] Die freie Szene untergräbt man total. | |
Fühlt man sich nicht auch ein bisschen verarscht, weil man nun offenbar für | |
nichts und wieder nichts zum Hygieneexperten geworden ist und bis hin zum | |
Kartenverkauf alles umgekrempelt hat? Das Volkstheater ist ja sogar schon | |
früher in die Spielzeit gestartet und hat einen Sommerspielplan vorgelegt. | |
Es war nicht für nichts und wieder nichts. Wenn wir im Juli nicht mit einem | |
klaren Hygienekonzept losgezogen wären, hätten wir die letzten vier Monate | |
nicht live vor Publikum gespielt. Und das war wichtig. Ich bin eher | |
skeptisch, ob die aktuellen Maßnahmen helfen. Sie treffen ganz stark die | |
Kunst und die Gastronomie, aber der gesamte Einzelhandel bleibt offen. | |
In der Vorweihnachtszeit werden die Kaufhäuser voll sein, und ich vermute, | |
dass die Zahlen nicht so stark sinken, weil wir nicht die Pandemietreiber | |
waren. Das ist zwar nicht nachweisbar, aber die Leute haben immer wieder | |
gesagt, dass sie sich bei uns sicher fühlen. | |
Bei einem dreiwöchigen Pilotversuch an der Bayerischen Staatsoper mit bis | |
zu 500 Zuschauern pro Vorstellung konnte kein einziger Covid-19-Fall | |
nachgewiesen werden. Was kaum jemanden wundern dürfte, der in den letzten | |
Wochen in einem Hochsicherheitstheater war. Aber wie viele der politisch | |
Verantwortlichen haben sich bei Ihnen im Haus selbst ein Bild gemacht? | |
Der Münchner Kulturreferent war des Öfteren da, aber die | |
Entscheidungsträger in Bund und Land haben sich das sicher nicht so genau | |
angeschaut. Es ist für sie einfach leicht, uns zu schließen, weil sie sich | |
sagen, dass sie uns ohnehin subventionieren und wir ihnen deshalb | |
verpflichtet sind. Und an die Kleinen denken sie nicht. | |
In einem zweiten offenen Brief haben alle Münchner Ensembles die | |
Entscheidungsträger um eine Debatte über die Verhältnismäßigkeit der | |
Maßnahmen gebeten. Warum gab es diese Debatte bisher nicht? | |
Puh, die rund 1,5 Millionen Kulturschaffenden in Deutschland treten einfach | |
nicht so konzentriert auf wie etwa der Einzelhandel. Wir sind viele | |
Einzelne, und deshalb ist es auch schwer, sich mit uns allen an einen Tisch | |
zu setzten. Vielleicht waren wir auch nicht laut und entschieden genug. Man | |
muss vielleicht schon mal überlegen, ob man sich nicht zusammentun und | |
gegen solche Entscheidungen klagen sollte. | |
Entscheidungen einer Kulturnation, die Kunst als „Freizeitgestaltung“ und | |
„Unterhaltung“ wegwischt? | |
Unterhaltung ist gut und selbstverständlich auch wichtig. Aber Kunst ist | |
viel mehr. Und was gar nicht gesehen wird, ist, wie viel Arbeit, Herzblut | |
und Liebe Künstler in ihren Beruf stecken. Ich habe kürzlich mit einem | |
jungen Tänzer gesprochen – und ich habe normalerweise nicht so viel mit | |
Tanz zu tun –, aber er hat mich sehr berührt. | |
Er hat gesagt: „Die Zeit, in der ich aktiv tanzen kann, ist kurz bemessen, | |
ich muss es jetzt tun!“ Und gerade in dieser schwierigen Zeit wollen und | |
müssen das die Leute auch sehen. Es geht nicht nur ums Überleben, sondern | |
ums Leben – und zum Leben und zur Lebendigkeit gehören Kunst und Kultur | |
dazu. | |
1 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
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