# taz.de -- Europa in der Coronapandemie: Wenn der Vorhang fällt | |
> Kulturschaffende aus Zagreb, Belgrad und Ljubljana befürchten, dass | |
> Corona die Kultur aus ihrem Leben verdrängt. Sie fühlen sich ungerecht | |
> behandelt. | |
Bild: Das Coronavirus belastet viele Kulturschaffende: umgebaute Sitzreihen im … | |
Am Vorabend der Parlamentswahlen in Kroatien kam ich von Berlin nach | |
Zagreb. Vor der Abreise hatte ich an Freunde aus dem ehemaligen Jugoslawien | |
Briefe gesendet, mit denen ich sie zu einem virtuellen Abendessen einlud, | |
das ich für das künstlerische Projekt „Europaküche“ in Marseille | |
vorbereite. | |
Als meine virtuellen Gäste wählte ich absichtlich jene, die aus den Ländern | |
vom europäischen Rand kommen, vom unteren Ende der ökonomischen Hierarchie, | |
Menschen, die Sprachen sprechen, die sonst kaum jemand spricht, und die | |
sich auf Erfahrungen berufen, die kaum jemand versteht. Hier werde ich nur | |
einige mit Vornamen erwähnen: Goran aus Zagreb, Petra aus Ljubljana, Siniša | |
aus Belgrad. | |
In den Briefen hatte ich ihnen einige Fragen gestellt, unter anderem fragte | |
ich sie, wie sie die Symptome der aktuell überall gegenwärtigen Krankheit | |
lesen, was ihrer Meinung nach mit dem Organismus Europas vor sich geht, da | |
die Pandemie auch andere akute Zustände an die Oberfläche befördert. Die | |
Antwort aus Zagreb kam als erste. | |
Goran schrieb mir, dass er über Europa überhaupt nicht nachdenke, da es | |
sich für ihn, das heißt für uns, immer anderswo befand, irgendwo jenseits | |
der Grenze: „Würde ich meine eigene Idee von Europa in eine Metapher | |
übersetzen, dann wäre Europa wie ein Wohnblock voller smarter Wohnungen für | |
Reiche. Du kannst an ihnen vorbeigehen. Du kannst auch für einen Augenblick | |
hineingehen. Aber das ist auch alles. Am liebsten würde ich Europa in | |
Minuskelschrift schreiben: europa. Würde europa mit uns am Tisch sitzen, | |
würde ich mich kein einziges Mal an diesen Gast wenden.“ | |
## Eine Antwort aus Ljubljana | |
Danach kam die Antwort aus Ljubljana. Petra betonte, dass der Beginn der | |
Pandemie in Slowenien zeitlich mit der Regierungsübernahme durch eine | |
rechte Koalition zusammenfiel. Diese nutzte die Hygienemaßnahmen, um | |
Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Seit Ende April protestieren die | |
Slowenen jeden Freitag, bei ihren Demos fahren sie auf Fahrrädern und | |
Rollern durch die Stadt, sie versuchen, neue Formen der öffentlichen | |
Versammlung zu entwickeln, um immer rigidere Verbote zu umgehen. | |
Sie schrieb mir, dass in ihrem Theaterhaus alles getan wurde, was möglich | |
war, um die Arbeit fortsetzen zu können, sie rissen die Stühle aus dem | |
Zuschauerraum und reduzierten das Publikum auf ein kleines Häuflein. „Ich | |
frage mich, warum das zum Beispiel in Flugzeugen nicht gemacht wurde“, | |
schrieb sie mir: „Ist das, was wir den Menschen bieten, weniger wichtig als | |
eine Reise an das andere Ende der Welt?“ | |
[1][Nach so vielen Bemühungen, die notwendig waren, um relativ wenig zu | |
erreichen], war ihre Deutung der Krankheitssymptome von der Sorge erfüllt, | |
[2][die Kultur und die Kunst könnten leicht aus unseren Leben | |
verschwinden]. | |
Dieselbe Sorge plagte Zygmunt Bauman, als er zu Beginn des Jahrtausends | |
betonte, dass die Aufgabe der Kunst während der gesamten Geschichte der | |
Menschheit darin bestand, aus unseren unsteten Lebensverläufen einen festen | |
Kern der Nachhaltigkeit zu sedimentieren, aus der Unmenge unserer | |
diskontinuierlichen Geschichten eine Kontinuität zu erschaffen; doch auch | |
damals, als er das sagte, genauso wie heute, interessierten sich nur wenige | |
für diese Aufgabe. | |
## Eine Vorstellung in Zagreb | |
Anfang Juli besuchte ich nach langer Zeit ein Zagreber Theater, um eine | |
Vorstellung zu sehen, für die eine Gruppe von Autoren, zu der auch ich | |
gehörte, Texte aus der Quarantäne geschrieben hatte. Die Zuschauer waren in | |
drei kleine Einheiten aufgeteilt, die innerhalb des gesamten | |
Theatergebäudes verstreut waren, damit sie sich nach Möglichkeit nur selten | |
begegneten. | |
Der erste Teil wurde zwischen den Kleiderständern in der Garderobe | |
gespielt, der zweite im Spiegel gegenüber der Damentoilette, der dritte im | |
Lager für Bühnenbilder, der vierte in der Tonkabine, der fünfte im | |
Probenraum und der sechste auf dem Dach. | |
Ich hielt mich am Ende meiner Zuschauergruppe, wobei ich das Gefühl hatte, | |
unter der Maske wenig Luft zu bekommen. Ich verspürte Lampenfieber, als | |
wäre ich selbst auf der Bühne, was gewissermaßen auch stimmte, da | |
tatsächlich die epidemiologischen Maßnahmen die Regie mitgestalteten und da | |
der Erfolg der Aufführung auch von unserer kollektiven Improvisation | |
abhängig war. | |
Wir als Publikum waren ein authentisches Abbild der Krise, aber auch ein | |
Beispiel dafür, wie man sie überwinden kann. | |
## Tränengas in Belgrad | |
In jenen Tagen, als über Serbien Wolken aus Tränengas schwebten, meldete | |
sich Siniša aus Belgrad. Gezwungen, volle vier Wochen in Selbstisolation zu | |
verbringen, arbeitete er an eine Serie von Zeichnungen zum Thema | |
zeitgenössisches Europa. Seine spezifische Bildersprache bietet ein von der | |
Ökonomie bestimmtes Bild der Welt, auf dem besonders Leerstellen und | |
Abstände sichtbar sind, während Menschenkörper nur noch als wegradierte | |
Formen existieren, an denen Kleidung, Uniformen oder Masken hängen. | |
Im grafischen Zyklus unter dem Titel „Social Distancing“ versammeln sich | |
Menschengruppen um ein imaginiertes Zentrum. Doch dieses Zentrum ist nur | |
ein verschmierter Fleck, ein angeblicher Inhalt ohne Botschaft und ohne | |
Sinn, eine Leere, die auf etwas Verlorenes verweist und uns erinnert, dass | |
das Zentrum unserer Kohäsion leer ist. | |
Wie auf der Zeichnung von Siniša sind wir dabei ertappt worden, wie wir | |
diese Situation betrachten, auf die wir nicht vorbereitet waren. Uns fehlen | |
die Worte, den Zustand, in dem wir uns befinden, zu beschreiben, und wir | |
schaffen es nicht, das zu sehen, worauf wir unsere Blicke richten. | |
In der Falle des Ausnahmezustands, in den wir eingetaucht sind, kann unser | |
Überleben nur noch die reine Improvisation sein, so wie jene, die man | |
inmitten eines zahnlosen Zuschauerraums erfahren kann oder auf den Straßen | |
in Ljubljana, durch die Fahrradfahrer kreisen, oder vor dem | |
Nationalparlament Serbiens, wo die Studenten mit Friedensbotschaften wie | |
„Ihr sollt dieses Volk nicht schlagen“ die Schlägertrupps der Polizei | |
stoppen, oder aber durch die Ergebnisse der Parlamentswahlen in Kroatien. | |
Bei diesen Wahlen gelang es der links-grünen politische Plattform namens | |
Možemo („Wir können es“) zum ersten Mal, eine bedeutende Rolle als Teil d… | |
Opposition zu erreichen. | |
## Ergebnisse einer Kampagne | |
Es gelang ihnen, ihre Stimmen ohne Budget für eine Wahlkampagne zu | |
gewinnen, indem sie sich sozialer Netzwerke bedienten, indem ihnen viele | |
Volontäre halfen sowie dank ihres großen Ansehens, das sie aufgrund ihrer | |
langjährigen Arbeit für das Gemeinwohl genießen. | |
Die Ergebnisse ihrer Kampagne hingen auch davon ab, wie sehr wir alle, die | |
wir sie seit Jahren unterstützten und ihnen vertrauten, es schaffen würden, | |
unsere Nächsten aus der politischen Apathie und aus ihrem Misstrauen gegen | |
das demokratische Verfahren herauszulocken. Ich sendete tagelang | |
Nachrichten und Links an meine Mutter, erklärte ihr das Programm und die | |
Pläne der Plattform Možemo und erinnerte sie an die Wahlen, sobald ich in | |
Zagreb eingetroffen war. Sie antwortete, dass die Politik sie anwidere. | |
Doch ich ließ nicht locker, und am nächsten Tag nahm ich sie an die Hand | |
und schleppte sie beinahe zum Wahllokal. Viele meiner Kollegen taten | |
dasselbe. Das war ein Beispiel für kollektive Improvisation. Jede Stimme | |
zählt. Jede Geste ist wichtig. Von ihnen hängt der Erfolg unserer | |
gesellschaftlichen Aufführung ab. Das lernen wir vom Theater. Das lernen | |
wir voneinander. Das ist das, was die Ränder europas dem Zentrum zu sagen | |
haben. | |
(Aus dem Kroatischen von Alida Bremer) | |
15 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ivana Sajko | |
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