# taz.de -- Thomas Ostermeier über geschlossene Bühnen: „Da fallen die Mask… | |
> Die Perspektiven fehlen, geprobt wird trotzdem. Der Intendant der | |
> Schaubühne Berlin erzählt über Theateralltag in der Coronapandemie. | |
Bild: Die Schaubühne im November, da hoffte man anfangs noch, im Dezember ging… | |
taz: Herr Ostermeier, Sie sind jetzt schon seit fünf Wochen Künstlerischer | |
Leiter eines geschlossenen Theaters. Wie sieht Ihr Arbeitstag aus? | |
Thomas Ostermeier: Der sieht anderen Arbeitstagen noch relativ ähnlich. | |
Letzte Woche haben wir unsere neue Version von [1][„Rückkehr nach Reims“] | |
und am Samstag Simon McBurnys „Michael Kohlhaas“ zur Premierenreife | |
gebracht. Diesen Samstag wollen wir [2][Simon Stones] „Yerma“ zu einem | |
vorläufigen Abschluss bringen. Das waren drei große Produktionen, mit | |
meiner Inszenierung von „Das Leben des Vernon Subutex 1“, die am 5. | |
November rauskommen sollte, sogar vier Stücke, die wir geprobt haben. Das | |
ist ein bisschen absurd. Das Theater läuft normal weiter, bloß ohne | |
Publikum. | |
Fast ein normaler Alltag? | |
Mit der Zugabe, dass wir uns zweimal die Woche testen ließen und extrem auf | |
Abstand und Maskentragen achteten. Nach den Abendproben konnten wir nicht | |
ins Café und sollten auch nicht in kleinen Gruppen vor dem Theater | |
zusammenstehen. Dazu arbeiten wir kontinuierlich [3][am Online-Programm.] | |
Unsere Sitzungen laufen über Zoom. Das Theater muss ja organisiert werden. | |
Mehr oder weniger alle zwei Wochen sind wir gezwungen, komplett umzuplanen. | |
Ich habe von einem Theater gehört, dass nicht nur Stücke probt, sondern | |
sogar vor leerem Haus weiterspielt, um sich bereit zu halten. Gespenstisch. | |
Das machen Sie nicht? | |
Jeder Durchlauf ist ja ein Spiel vor leerem Haus. „Vernon Subutex“ hätten | |
wir ensuite gespielt, als Reaktion auf Corona. Damit jede Produktion eine | |
eigene „Kohorte“ bildet und nicht mit anderen in Berührung kommt. Nachdem | |
die geplante Premiere vom 5. November drei Tage vorher abgesagt wurde, | |
konnten wir einmal die Woche einen Durchlauf machen, um das frisch zu | |
halten. Aber es bleibt die Frage, für wann hält man das frisch? Man | |
verliert auch ein bisschen den Spass, wenn man so gar keine Aussicht auf | |
die Begegnung mit Publikum hat. Aber die Stimmung unter den Künstler*innen | |
ist trotz der angespannten Situation erstaunlich gut. | |
Im Moment ist der Stand in Berlin, bis zum 10. Januar wird nicht gespielt. | |
Wer die Presse aufmerksam verfolgt, kann lesen, dass das | |
Infektionsgeschehen im Moment schlimmer wird. Es ist nicht unter Kontrolle. | |
Die Diskussionen gehen weiter, ob wir schärfere Maßnahmen brauchen, einen | |
harten Lockdown für zwei Wochen. Vermutlich geschieht dies allerdings erst | |
nach Weihnachten. Und damit steht natürlich auch der 10. Januar wieder | |
infrage. | |
Schon bei der ersten Theaterschließung Mitte März kam von Ihnen der | |
Vorschlag, gleich bis Ende des Winters geschlossen zu bleiben und dafür in | |
der Sommerpause zu spielen. Ist das ein konkreter Plan? | |
Wir überlegen im Moment, größere Blöcke von einzelnen Produktionen in den | |
Sommerferien anzubieten, aber so abzuwechseln, dass alle | |
Mitarbeiter*innen trotzdem Sommerferien bekommen. Die Planungen sind | |
allerdings noch nicht abgeschlossen. Ökonomisch gesehen und vielleicht auch | |
für das seelische Wohl der Mitarbeiter*innen wäre es besser gewesen, | |
das Haus bis Ende des Jahres zuzulassen. Realiter hat die Schaubühne im | |
Herbst ja nur 2,5 Wochen gespielt. Ich bin da auch sehr beeinflusst von | |
meinen internationalen Kolleg*innen, mit denen ich viel plane, in London, | |
New York und Paris: Die meisten Theater im angelsächsischen Raum können | |
sich gar nicht leisten zu spielen, ohne dass der Saal voll ist. Auch für | |
die Schaubühne als Privattheater ist es wichtig, möglichst viele | |
Zuschauer*innen in den Saal zu lassen, um genügend Einnahmen zu | |
generieren. In den genannten Städten hatten wir diese Spielzeit übrigens | |
wahnsinnig viel vor. | |
Weil die Schaubühne dort Gastspiele zeigt? | |
Nicht nur, auch weil ich dort als Regisseur inszeniert hätte, zum Beispiel | |
in Tokio im Rahmenprogramm der Olympischen Spiele. Wir wären in New York | |
gewesen, nach Paris zu fahren planen wir noch, Athen, Lissabon, Amsterdam | |
und vieles mehr wurde abgesagt. Meine Kolleg*innen in England und in | |
Amerika staunen über das, was in Deutschland möglich ist oder war. Wenn die | |
Theater, wie im angelsächsischen Raum üblich, mehr oder weniger von ihren | |
Einnahmen abhängig sind, können sie nicht vor einem halb- oder | |
viertelbesetzten Saal spielen. Die Schaubühne hängt mit ihrer | |
Gesellschaftsform ein wenig zwischen dem deutschen und dem englischen | |
Modell. Auch deswegen habe ich am Anfang dafür plädiert, bis Ende des | |
Jahres zuzumachen. | |
Im März waren Sie mit dieser Ansicht unter den Intendanten allein. | |
Mein Bruder, der als Mediziner seit acht Monaten eine Covidstation leitet, | |
hat mir schon im März gesagt, ich müsste mit einem Jahr rechnen, das wir | |
geschlossen bleiben. Das scheint sich zu bewahrheiten. | |
Hat sich in dieser Situation etwas im Verhältnis zwischen den Theater | |
verändert? | |
Die Kommunikation ist mehr geworden, in einer Runde mit vielen | |
Intendant:innen aus ganz Deutschland, aus Frankfurt, Stuttgart, München, | |
Hamburg, haben wir uns verständigt. In Berlin verständigt man sich ein | |
bisschen auf Zuruf. Wir reden auch in der Akademie der Künste. Und | |
natürlich in den [4][Zoomkonferenzen von Kultursenator Klaus Lederer,] in | |
der er alle großen Bühnen, auch Opern und Orchester, zusammengerufen hat. | |
Da bekommt man die Positionen der anderen mit. Zuletzt waren sich alle | |
einig, bis Mitte Januar muss man mindestens zumachen, und viele vermuten, | |
dass es vor Ende Januar nichts wird. Von etwas anderem auszugehen, wäre | |
Wunschdenken. | |
Als die bundesweiten Theaterschließungen Ende Oktober angekündigt wurden, | |
gab es erst eine große Empörung in der Kultur, weil man ja viele | |
Hygienemaßnahmen umgesetzt hatte. Als würden die Falschen bestraft. Es | |
blieb auch eine Kränkung, unter Freizeitangebote einsortiert zu sein. Aber | |
da die Infektionszahlen nicht besser werden, hat sich diese Empörung | |
gelegt. | |
Ich war bei dieser Empörung nie dabei. Durch den engen Kontakt mit meinem | |
Bruder hatte ich ein anderes Bild. Schon im Frühjahr sind auch junge | |
Menschen gestorben. Aber: Ich bin ja ein Anhänger des dramatischen | |
Theaters. Weil ich glaube, dass in einer dramatischen Situation die Masken | |
fallen. Die eigentlichen Intentionen kommen zum Vorschein. Das haben schon | |
viele gesagt, ich kann es nur wiederholen: Die Coronakrise verschärft die | |
Antagonismen der Gesellschaft, und einer davon ist das Primat der Ökonomie. | |
Wenn wir sehen, was in den Einkaufsstraßen los ist, wenn es verkaufsoffene | |
Sonntage gibt, dann wissen wir, wo wir leben. Mir kann keiner erzählen, | |
dass, was da in den Shopping-Malls passiert, kontrollierbarer ist, als das, | |
was wir in den Theatern gemacht haben. Aber es überrascht mich nicht, dass | |
die Gesellschaft sich für Industrie und Handel entscheidet, vielleicht | |
sogar entscheiden muss. | |
Als es mit der Theaterschließung im März losging, sollte gerade das | |
[5][Festival Internationaler Neuer Dramatik] an der Schaubühne starten | |
und fiel aus. Da war zuerst von einer Verschiebung um ein Jahr die Rede. | |
Im Moment haben wir es auf den Herbst 2021 verschoben. Dann hätten wir eine | |
Spielzeit mit zwei Festivals. Für das Frühjahr 2022 ist eine Retrospektive | |
mit Arbeiten des kanadischen Regisseurs Robert Lepage geplant. Um das | |
zustande zu bringen, bin ich mit Lepage seit mehreren Jahren im Gespräch. | |
Der ist so ausgebucht, das kann man nicht verschieben. Er war lange nicht | |
mehr in Berlin zu sehen, das wäre wichtig. | |
Was bekommen Sie mit von den Künstlern, die Sie zum Festival eingeladen | |
hatten? | |
Da gibt es viel zu erzählen. Eine so große Künstlerin zum Beispiel wie | |
Angélica Lidell aus Spanien ist extrem bedroht. Sie ist eine großartige | |
Performerin mit einer unabhängigen Compagnie. Diese finanziert sich über | |
Touren und Partner, mit denen sie koproduziert – das fiel jetzt alles aus. | |
Von der spanischen Kulturförderung wurde sie in den vergangenen Jahren | |
nicht unterstützt. Die Ambivalenz an der Pandemie ist, dass sie | |
Institutionen schützt, und damit das etwas Konventionellere in der Kultur | |
womöglich eher überlebt als das etwas Freiere. | |
Mit den Festivaleinladungen an die Schaubühne öffnen Sie Fenster in die | |
Welt anderer Theater. Aber das geht nicht ohne Finanzierung. Wie | |
zuversichtlich sind Sie, dass dies nach der Coronakrise weitergeht? | |
Dass Sparhaushalte kommen, ist möglicherweise richtig. Aber das Narrativ, | |
dass wir durch das Sparen in der Kultur die Haushalte maßgeblich entlasten | |
könnten, ist Humbug, kompletter Humbug. Das soll man nicht wiederholen, | |
darauf beharre ich extrem. | |
Sparen in der Kultur bringt nichts? | |
Ja, um das mit Zahlen zu verdeutlichen, etwa 1 Prozent des Berliner | |
Haushalts geht in die Sprechtheater, knapp 3 Prozent in die Kultur | |
insgesamt. Ich sehe da keine wesentlichen Einsparpotenziale. Im Gegenteil. | |
Was Berlin in den letzten Jahren nach vorn gebracht hat, war Wissenschaft | |
und Kultur, das befeuert auch den Tourismus. Natürlich ist es ein | |
willkommener Vorwand für jeden Kämmerer, auf die Pandemie und ihre | |
Spätfolgen hinzuweisen. Da müssen wir stark sein und eine andere Linie | |
aufbauen. Und mit den Zahlen argumentieren. | |
14 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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