# taz.de -- Theatergeschichte am Bildschirm: Wehmütige Zeitreise | |
> Der Online-Ersatzspielplan der Schaubühne Berlin bringt legendäre Stücke | |
> aus der Zeit, als Berlin noch Mauerstadt war, unter anderem von Peter | |
> Stein. | |
Bild: „Bella Figura“ von Yasmina Reza, mit Nina Hoss und Mark Waschke | |
Wenn Streamen das Gebot der Stunde ist, dann dürfen die Theater natürlich | |
nicht zurückstehen. Da das Publikum nicht ins Haus kommen kann, kommt das | |
Haus zum Publikum. | |
Besonders engagiert dabei zeigt sich die [1][Schaubühne in Berlin], die | |
einen zweigleisigen Weg geht: Zum einen wird ein [2][buntes Arrangement | |
kleinerer Videoclips mit sehenswerten Einzelleistungen] von | |
Ensemblemitgliedern auf der Website vorgehalten. Hier kann man etwa Florian | |
Anderer in einem irrwitzigen Monolog aus Konrad Bayers „der die mann“ | |
bestaunen oder sich anhören, wie Carolin Haupt im Homeoffice zum Klavier | |
singt. Dieses freundliche Sammelsurium stellt ein niedrigschwelliges, | |
allzeit verfügbares Angebot dar, mit dem Laptop-MalocherInnen ihr | |
Arbeitsgerät zwischendurch mal nutzen können für eine unterhaltsame Pause. | |
Die andere Programmschiene ist deutlich aufwendiger und fordert auch vom | |
Publikum mehr zeitliche Disziplin und Sitzfleisch: Jeden Abend zwischen | |
18.30 und 24 Uhr (und immer mit einer neuen | |
Ensemblemitglied-Soloperformance im digitalen Vorprogramm) wird eine andere | |
Schaubühnen-Inszenierung gestreamt. Wer dabei das Lieblingsstück verpasst, | |
hat Pech gehabt; also lohnt es sich, auf die genauen Termine zu achten. | |
[3][Es ist ein echter Online-Spielplan.] | |
## Leuchtende Erinnerungen | |
Das Besondere daran: Er enthält nicht nur Inszenierungen der vergangenen | |
paar Jahre, die man vielleicht verpasst hat und hier nachholen kann | |
(darunter natürlich zahlreiche von Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier), | |
sondern auch viele Klassiker aus der Frühzeit des Hauses. Damit bietet er | |
in dieser seltsamen Zeit der allgemeinen Einkehr die Chance, sich ganz in | |
Ruhe einmal (für die etwas Älteren unter uns) zurückzubesinnen – | |
beziehungsweise (für die etwas Jüngeren) sich vertrauter zu machen mit der | |
kulturellen Vorgeschichte eines der profiliertesten Häuser der Stadt. | |
Unter den reiferen Jahrgängen der geborenen WestberlinerInnen findet man | |
Menschen, die noch heute mit leuchtenden Augen von Peter Steins | |
Inszenierung von Maxim Gorkis „Die Sommergäste“ zu erzählen wissen, die in | |
den frühen siebziger Jahren Kultstatus erlangte. Ein ganzer Birkenwald sei | |
auf der Bühne gewesen! Wie das geduftet habe! Tout Berlin sei damals zur | |
Schaubühne ans Hallesche Ufer gepilgert! [4][Peter Stein, der sich zuvor in | |
Bremen einen Ruf als Theaterrevoluzzer erworben hatte,] war 1970 nach | |
Berlin gekommen, um das Theater in Kreuzberg (heutiger Standort des HAU 2) | |
gemeinsam mit seinem Ensemble – die Zeichen der Zeit standen zunächst noch | |
auf Mitbestimmung – zu übernehmen. | |
Auf dem Online-Spielplan standen bereits vergangene Woche erste | |
Peter-Stein-Produktionen aus diesen frühen Jahren: seine „Sommergäste“ | |
sowie die Uraufführung von Botho Strauß’ „Groß und klein“, beides als | |
filmische Adaption. Wie der Birkenwald geduftet hat, lässt sich im | |
Nachhinein nicht mehr erleben. Auch nicht, wie der Wald auf der Bühne | |
ausgesehen hat, denn für die filmische Umsetzung ist Stein mit seiner | |
Truppe ganz und gar in die Natur hinausgegangen. (Fragt sich, wo das | |
gewesen sein kann. Die Landschaft macht einen recht brandenburgischen | |
Eindruck, aber da konnten die ja damals nicht hin.) Mit der Kamera dabei | |
war Michael Ballhaus, der das Geschehen zu bewegten Bildern voller Tiefe | |
formt. | |
## Die nicht mehr leben | |
Sie führen auf eine schöne, aber auch wehmütig stimmende Zeitreise in die | |
jungen Jahre vieler hochverehrter SchauspielkünstlerInnen, von denen viele | |
heute nicht mehr leben. [5][Bruno Ganz,] [6][Otto Sander,] Eberhard Feik – | |
alle schon fort für immer, genau wie Ballhaus. Peter Stein lebt laut | |
Wikipedia in der Toskana und baut Oliven an. | |
Edith Clever war auch die erste Lotte, Hauptfigur in Botho Strauß’ (damals | |
Dramaturg des Hauses) Erfolgsstück „Groß und klein“, das einst wohl als | |
eine Art Seismograf westdeutscher Befindlichkeiten begriffen wurde. Wenn | |
man sich die Produktion von 1978 heute ansieht, ist das nicht leicht | |
nachzuvollziehen. Es muss damals ein sehr anderes Land gewesen sein. | |
(Diesen Eindruck hinterlassen Gorkis vorrevolutionäre „Sommergäste“ viel | |
weniger.) Clevers große performerische Leistung ist aber nach wie vor sehr | |
beeindruckend. | |
Für Stein und die Seinen wurde das Haus am Halleschen Ufer bald zu klein. | |
Im Jahr 1981 zog das Theater an den Lehniner Platz um. Zuvor inszenierte | |
Stein noch die „Orestie“ des Aischylos, deren dreiteilige filmische | |
Umsetzung man diese Woche von Mittwoch bis Freitag dieser Woche auf dem | |
heimischen Bildschirm verfolgt werden kann. | |
Am Osterwochenende stehen dann mit [7][Yasmina Rezas „Bella Figura“](Regie: | |
Thomas Ostermeier 2015) und Anton Tschechows „Drei Schwestern“ (Regie: | |
Stein 1984) zwei All-time-Favourites der Schaubühne am Lehniner Platz, auf | |
dem Ersatzspielplan. Theater aus dem Computer mag nur einen schwachen | |
Abglanz der dramatischen Wirklichkeit zeigen. Aber schön daran ist die | |
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. | |
6 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Theater-in-Zeiten-von-Corona/!5671420 | |
[2] https://www.schaubuehne.de/de/video/zwangsvorstellungen.html | |
[3] https://www.schaubuehne.de/de/seiten/online-spielplan.html | |
[4] /Archiv-Suche/!1639146&s=Petra+Kohse+Peter+Stein&SuchRahmen=Print/ | |
[5] /Nachruf-auf-Bruno-Ganz/!5570848 | |
[6] /Archiv-Suche/!417949&s=Otto+Sander&SuchRahmen=Print/ | |
[7] /Archiv-Suche/!869905&s=Bella+Figura&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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