| # taz.de -- Was der Kultur im Netz verloren geht: Hört auf zu streamen! | |
| > Die Virtuosen des Analogen stürzen sich jetzt ins Netz. Warum digitale | |
| > Parallelaktionen die Künste nicht retten und Ausbeutung vorantreiben. | |
| Bild: Die Familie von Wu Lingyun performte Anfang März im Stream eine Jin Oper… | |
| Alle leiden derzeit unter der sozialen Distanzierung. In der Not entdecken | |
| die [1][Virtuos*innen des analogen Fachs nun das Internet], dem | |
| sanitätspolizeiliche Verfügungen nichts anhaben können. Bildende | |
| Künstler*innen stellen ihre Arbeiten „virtuell“ aus, Museen liefern die | |
| Bilddatei des Tages samt schulmäßigem Interpretationstext, freie | |
| Theatergruppen laden geschwind die dokumentierenden Aufzeichnungen | |
| vergangener Produktionen hoch. Es wird gestreamt, bis die Router in die | |
| Knie gehen. Die Plattform Nachtkritik schafft sich die Ereignisse und den | |
| Diskussionsstoff einfach selbst über ihr Streamingangebot. | |
| Beobachtet eigentlich jemand, was aus der ganzen schönen Kunst wird, wenn | |
| sie in die Körperlosigkeit des digitalen Vakuums entweicht? Was sind ihre | |
| Werke ohne den „Schmutz“ der Materialien, was ist darstellende Kunst ohne | |
| die körperliche Präsenz von Akteur*innen und Publikum? Das ist keine | |
| analoge Nostalgie, sondern die Frage nach dem materiellen Substrat, das | |
| von der Kunst nicht abzutrennen ist, ohne das nichts Form wird, sondern nur | |
| die beliebige Reihung zufälliger Gedanken. Was auf den Begriff gebracht und | |
| klar kommuniziert werden kann, ist die ganze Mühe und den Ärger mit der | |
| Kunst nicht wert. | |
| Das heißt nicht, dass man vorhandene technische Mittel nicht nutzen soll. | |
| Es geht um einen reflexiven Gebrauch, der Medien nicht einfach verwendet, | |
| sondern als Material begreift. Als eines, das Inhalte nicht nur | |
| transportiert, sondern auch transformiert. Medien haben eigene Spielregeln | |
| und auch eine Botschaft – sich selbst. | |
| ## Das Tagwerk wird zum Statement | |
| Zu den wenigen interessanten Krisenreaktionen gehören die | |
| Twitter-Hauskonzerte des Pianisten Igor Levit. Er sitzt in Jeans und | |
| Turnschuhen hinterm Flügel und spielt Stücke zu Übungszwecken, wie er es | |
| acht bis zehn Stunden täglich ohnehin tut. Das Tagwerk des Künstlers wird | |
| zum Statement. Man verfolgt mit intellektuellem Vergnügen die Musik und | |
| seine Spielweise, aber Wohlklang als Substitutionsdroge gegen den | |
| Lagerkoller will sich nicht einstellen. Die vorsintflutliche Klangqualität | |
| des Mediums weist immerzu auf sich selbst zurück, es verbindet und trennt | |
| zugleich. | |
| Man kann eine Weile für die Schublade schreiben oder malen, aber nicht nur | |
| darstellende Künstler*innen sind schon während der Produktion auf soziale | |
| Interaktion angewiesen, die nicht ins Homeoffice verschoben werden kann. | |
| Man stelle sich eine Ensembleprobe per Videokonferenz vor. Wie soll man | |
| etwa gesprochene Sprache chorisch oder dialogisch sinnvoll und | |
| reproduzierbar ordnen, wie sich mit Choreografie befassen, wenn man aufs | |
| iPad schielt? | |
| ## Angst vor der Marktbereinigung | |
| Künstler*innen sind derzeit tatsächlich doppelt gebremst – in dem, was sie | |
| zu sagen haben, und darin, mit ihrer Arbeit herauszufinden, was überhaupt | |
| zu sagen wäre. Viele treibt pure Panik dazu, sich im Wettbewerb einer | |
| Aufmerksamkeitsökonomie hinten anzustellen. Sie haben den frommen Wunsch, | |
| in Erinnerung zu bleiben und die Marktanteile aus Vorkrisenzeiten später | |
| wieder einzunehmen. Der Kleinunternehmerinstinkt, den viele Künstler*innen | |
| in der Hetze von Projekt zu Projekt geschärft haben, fürchtet zu Recht jene | |
| Marktbereinigung, die libertäre Ideologen in den Stahlgewittern der Krise | |
| für die Gesamtwirtschaft erhoffen. | |
| Krise aber war schon vorher da. Bis auf ein paar Happy Few nimmt die | |
| überwiegende Zahl der Künstler*innen seit den 1990er Jahren an einem | |
| gigantischen Feldversuch über die Zukunft der Arbeit teil. Das Experiment | |
| mit flexibleren Formen des Wirtschaftens könnte interessant sein, wäre es | |
| nicht über weite Strecken mit den Zumutungen des Prekariats verbunden. | |
| Was aber treibt Geschädigte der Gig-Ökonomie dazu, ihr Heil in weiteren | |
| Gigs zu suchen? Digitale Plattformen sind weder egalitär noch wertneutral, | |
| sie entwickeln eine Tendenz zur Monopolisierung ihrer Märkte, sind ihrem | |
| Content gegenüber indifferent, solange er ihnen nicht ausgeht, und sie | |
| treiben die Ausbeutung des produktiven Vermögens der Arbeitenden nur noch | |
| weiter. Wenn jetzt Plattformen für digitales Theater Künstler*innen | |
| anbieten, zu einer Art von künstlerischen Uber-Fahrern zu werden, sollte | |
| man sie ebenso verklagen wie die Taxibranche aller Länder das kalifornische | |
| Unternehmen. | |
| Kunst ist zwangsläufig eine Ware. Aber sie geht in der Warenform nicht | |
| vollständig auf, irgendetwas spießt sich daran immer. Kunst, Theater und | |
| Tanz sind gerade nicht jederzeit verfügbar und universell tauschbar. Sie | |
| schaffen Situationen außerhalb des Alltags, in denen sie nicht alltägliche | |
| und bisweilen verstörende Erfahrungen provozieren. Sie unterbrechen | |
| Kommunikation und das geschäftige Treiben der Öffentlichkeit und stellen | |
| ihr Rätsel. Sie halten die Welt an. | |
| Das mit dem Weltanhalten hat jetzt in ungeahnt brutaler Weise die Pandemie | |
| übernommen und lässt die Kunst doppelt verstört zurück. Dass Theater und | |
| Museen geschlossen sind, muss schmerzen, sonst gäbe es keinen Grund, sie | |
| wieder aufzusperren. Wer nicht schweigen kann, hat auch für nachher nicht | |
| wirklich etwas zu sagen. | |
| 11 Apr 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Uwe Mattheiß | |
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