| # taz.de -- Theater beginnt online neu: Bildschirme als Bühne | |
| > Im Bereich der Netzkultur fehlt es Theaterhäusern an Erfahrung. | |
| > Live-Performances im Netz werden jetzt in „Babyschritten“ geübt. | |
| Bild: Alleine mit der Kamera: Schauspielerin Karin Pfammatter im „Dekalog“-… | |
| Die Theaterhäuser, so viel scheint klar, bleiben bis Sommer geschlossen. | |
| Waren zunächst Streamings von Aufzeichnungen das Mittel der Wahl, beginnt | |
| jetzt die Arbeit an Live-Netz-Performances. | |
| Da ist etwa [1][Gro Swantje Kohlhof, Schauspielerin bei den Münchener | |
| Kammerspielen, die zu wöchentlichen Hogwarts-Expeditionen] in ihre Wohnung | |
| einlädt und jeweils einen Harry-Potter-Band nacherzählt. Charmant-archaisch | |
| übersetzt sie spielerisch Solo-Theater ins You-Tube-Format. | |
| Fürs Schauspiel Leipzig bemüht sich [2][Regisseur Philipp Preuss in „k.“ | |
| mit seinen Schauspieler*innen im Home-office Kafkas „Schloss“] als | |
| Vierteiler auf die Bildschirme, die jetzt die Welt bedeuten, zu bringen. | |
| Split-Screens mit der Konferenzsoftware Zoom zeigen maskenartige Gesichter, | |
| die Kafkas Text sprechen. Dazwischen vorproduzierte Videos von | |
| Winterwäldern oder Flipperautomaten, hinter denen die Gesichter | |
| verschwinden können. Da fühlt man sich eher an Video-Experimente denn an | |
| Theater erinnert. | |
| Am Schauspielhaus Zürich stellt Regisseur [3][Christopher Rüping für sein | |
| zehnteiliges Remake-Projekt „Dekalog“] (es lief als Theater 2103 in | |
| Frankfurt) zu den zehn Geboten jeweils eine*n Schauspieler*in auf die | |
| leere weiße Bühne und lässt das Publikum mittels Abstimmungstool interaktiv | |
| eingreifen. Bereits beim zweiten Versuch funktioniert sogar die Technik. | |
| Der Bühnenraum ermöglicht eine eigenständige Kameraarbeit, was die Dynamik | |
| deutlich stärkt im Gegensatz zu den Homeoffice-Experimenten. | |
| ## Diskursausbrüche und Pixelrauschen | |
| Das ganz große digitale Panorama will die neue Theaterinitiative Vier.Ruhr | |
| aufschließen, also das Theater an der Ruhr, der Ringlokschuppen und die | |
| Mülheimer Theatertage. Corona ist der Kickstart für die Mülheimer | |
| Initiative, [4][die mit „Dekameron“ zehn Künstler*innen(kollektive) einen | |
| digitalen Raum für Live-Theater] zur Verfügung stellen. Schließlich handelt | |
| auch Giovanni Boccaccios „Decamerone“ vom Geschichtenerzählen im | |
| Pest-Exil. Der Start ist holprig: 90 Minuten lang stellen sich die Gruppen | |
| in kleinen Online-Miniaturen dem Publikum vor, irgendwo zwischen | |
| humoristischer Mini-Performance, Diskursausbrüchen oder merkwürdigem | |
| Pixelrauschen. | |
| Spricht man mit den Künstlern über die ästhetischen Annäherungen an das | |
| neue Medium Internet-Theater, so fällt immer der Begriff der Terra | |
| incognita, des Neulands. „Wir machen hier Babyschritte“, sagt Anna Bründl, | |
| Koordinatorin von Vier.Ruhr. Ziel wäre, künstlerische Verbindungen zwischen | |
| den Beteiligten herzustellen, aber die räumliche und technische Distanz | |
| existiert ja nicht nur zwischen Publikum und Theater, sondern auch zwischen | |
| den Künstler*innen selbst. Selbst Kollektive vereinzeln sich in dieser | |
| Situation und nur das WLAN hält sie zusammen. | |
| Alle suchen noch nach der performativen Qualität des neuen Mediums, das ja | |
| Raum- und Sehgewohnheiten gleichermaßen transformiert. „Es ist im Grunde | |
| ein Lehr- und Lernstück für alle Beteiligten“, ergänzt Matthias Frense, | |
| künstlerischer Leiter im Ringlokschuppen. „Wir sind ja im Grunde alles | |
| blutige Laien im Bereich der Netzkultur.“ | |
| ## Technische Fragen | |
| Zugleich stellen sich technische Fragen. So erlauben die gängigen Softwares | |
| kein Überlagern von Tonspuren, wer sich räuspert, bekommt das Wort. | |
| Chorisches Sprechen oder gar der Einsatz von Live-Musik von verschiedenen | |
| Orten wird schwierig, zumal Live-Streaming auch kein zeitlich synchrones | |
| Medium ist. Immer kommt es zu Verzögerungen und Sprüngen. | |
| Uneinigkeit besteht zudem in der Frage, wie die Kommunikationsmöglichkeiten | |
| über Chats und ähnliches in Web-Theater sinnvoll eingebunden werden können. | |
| „Während eines Theaterabends erzählt mir mein Sitznachbar ja auch nicht, | |
| was es zu Mittag gab“, findet Preuss, und auch Rüping, der zwar klar auf | |
| Interaktion setzt, hat beim zweiten Dekalog-Abend den Chat wieder | |
| abgeschaltet. | |
| Aktuell gilt für alle die achte der zehn Thesen, die Rüping seinem | |
| „Dekalog“ vorangestellt hat: „Wir gehen davon aus, dass es keine Profis | |
| mehr gibt, nur noch Anfängerinnen und Anfänger, sowohl auf Publikums- als | |
| auch auf Produzierendenseite.“ Oder wie Bundeskanzlerin Merkel es einst | |
| formulierte: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ | |
| 22 Apr 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.muenchner-kammerspiele.de/inszenierung/hogwarts-exkursion-mit-g… | |
| [2] https://www.schauspiel-leipzig.de/spielplan/a-z/k-ein-internet-projekt/ | |
| [3] https://neu.schauspielhaus.ch/de/journal/18148/dekalog-das-projekt | |
| [4] https://vier.ruhr/ | |
| ## AUTOREN | |
| Torben Ibs | |
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