| # taz.de -- Interview mit Berliner HAU-Intendantin: „Wir machen nun Homeoffic… | |
| > Der Spielbetrieb abgesagt, neue Strategien werden entwickelt. Langfristig | |
| > glaube sie an eine Sehnsucht nach Theater, sagt Annemie Vanackere. | |
| Bild: Annemie Vanackere vom HAU | |
| taz: Frau Vanackere, wie [1][viele Vorstellungen fallen im HAU] aus? | |
| Annemie Vanackere: Bis 19. April mussten wir 55 Aktivitäten annullieren, | |
| was sehr bitter ist. Das ganze Festival „Spy on Me #2 – Künstlerische | |
| Manöver für die digitale Gegenwart“, dann das komplette Showcase Ligia | |
| Lewis und Repertoirestücke von She She Pop, Gob Squad und Ivo Dimchev, um | |
| nur einiges zu nennen. | |
| Welche Einnahmenverluste drohen dadurch? | |
| Wir haben das noch nicht durchkalkuliert. Nach aktuellem Stand werden | |
| zumindest bei „Spy on Me #2“ die Einnahmenverluste in etwa kompensiert | |
| durch die Ausgaben, die wir nicht haben, weil wir das Programm in dieser | |
| Form nicht durchführen können. Zum Beispiel Flüge und Unterkünfte, die wir | |
| nicht brauchen. Aber das gilt nur für das Festival. | |
| Können die ausgefallenen Vorstellungen später in den Spielplan integriert | |
| werden? Gibt es da überhaupt einen Platz dafür? | |
| Das ist ein großes Problem. Bei den Repertoirestücken wird es wieder | |
| Möglichkeiten geben. Auch das Thema digitale Manöver … | |
| … also die Inhalte vom ausgefallenen Festival „Spy on Me#2“ … | |
| … ist mir eine Herzensangelegenheit. Da bleiben wir dran. Aber wann und wie | |
| und in welcher Konstellation das sein wird, das können wir nicht sagen. Wir | |
| können es auch nicht den beteiligten Künstler*innen versprechen. Denn im | |
| Grunde sind wir durchgeplant bis März 2021. | |
| Durch den Coronavirus könnte aber auch manches freiwerden, weil vielleicht | |
| nicht jede Produktion zustandekommt wegen der unterschiedlichen Regelungen | |
| und Reiserestriktionen in den Heimatländern der Künstler*innen. Haben Sie | |
| das auch schon beobachtet? | |
| Kurzfristig ist das der Fall mit Forced Entertainment. Die Gruppe | |
| verschiebt ihre geplante Premiere gleich ins nächste Jahr. Ursprünglich | |
| wollten sie Mitte April für die Endproben nach Deutschland kommen und bei | |
| den drei Koproduktionspartner*innen spielen: Premiere auf PACT Zollverein, | |
| danach im HAU und dann zum Mousonturm. Das ganze Projekt wird nun aber | |
| verschoben, sowohl aus gesundheitlicher Fürsorge als auch wegen | |
| Mobilitätsproblemen. | |
| Wie lange, denken Sie, wird sich die Situation noch hinziehen? Wird es ab | |
| dem 20. April weitergehen? | |
| Auch wir wissen nicht, wie die Lage sich entwickelt. Aber das | |
| Theatertreffen ist bereits abgesagt. Ich schließe nicht einmal aus, dass | |
| wir bis zur Sommerpause keinen Spielbetrieb haben werden. | |
| Wie ist die Situation der Künstler*innen und der ganzen freien | |
| Techniker*innen und anderen Freiberufler*innen, die zum Theaterbetrieb | |
| dazugehören. Zahlen Sie denen Ausfallhonorare? Gibt das der Etat überhaupt | |
| her? | |
| Wir stehen selbstverständlich zu den bereits eingegangenen Verpflichtungen. | |
| Hier haben wir auch Rückendeckung aus der Senatsverwaltung. Es herrscht | |
| jedoch noch Unsicherheit, wie mit Produktionen über den 19. April hinaus | |
| umzugehen ist. Wir planen ja langfristig. Da warten wir noch auf ein Signal | |
| vonseiten der politisch Verantwortlichen. Die Gehälter der Angestellten | |
| sind gesichert. Aber die zahlreichen Freiberufler*innen, Künstler*innen und | |
| freien Gruppen, mit denen wir zusammenarbeiten, haben existenzielle | |
| Probleme, wenn der Spielbetrieb weiter ausgesetzt bleibt. Das ist keine | |
| gute Situation. Es gibt derzeit noch keine belastbaren Ideen, wie den | |
| Freiberufler*innen effektiv und unbürokratisch geholfen werden kann. Ich | |
| habe Zweifel, dass Gelder aus abstrakten Fonds rechtzeitig bei ihnen | |
| ankommen. | |
| Ein großes Problem ist auch, wie sich, wenn die Ausnahmesituation weiter | |
| anhält, die sozialen Mechanismen ändern, wenn wir uns daran gewöhnt haben, | |
| auf Distanz zu gehen. Wie wird es dann dem Theater gehen? | |
| Da treffen Sie einen Nerv bei mir. Nadia Ross von der kanadischen Gruppe | |
| STO Union, die „Spy on Me #2“ eröffnen sollte, hat mir erzählt, wie lange | |
| Kanada brauchte, sich von der Sars-Epidemie 2003 zu erholen. Auch damals | |
| ging es darum, soziale Distanz einzuhalten, um die Ansteckung einzudämmen. | |
| Als die Normalität zurückkommen durfte, hatten die Menschen Scheu, wieder | |
| in Theaterräume zu gehen, wo man Ellenbogen an Ellenbogen sitzt. | |
| Weil Theater für viele dann weiterhin in der Imagination eine Art | |
| Giftküche, ein potenzieller Ansteckungsherd war, den man lieber vermeiden | |
| sollte? | |
| Oh je, so ein ganz schlimmes Wort! Aber ja. | |
| Gibt es eigentlich Überlegungen und Ideen für andere Formate, die auch | |
| jetzt gehen könnten, für virtuelles Theater? | |
| Es ist in unserer DNA drin, uns zu überlegen, was wir machen können. Was | |
| geht möglicherweise online? Nicht Theaterstücke: Die leben davon, dass | |
| Publikum da ist. Aber es funktioniert für Arbeiten, bei denen das Digitale | |
| bereits mitgedacht wurde. So wie bei [2][„dgtl fmnsm]“. Wir wollten erst | |
| eine Art Installation in unserem HAU2-Studio für sie aufbauen und von dort, | |
| mit Publikum, live streamen. Da das nicht mehr geht, arbeitet die Gruppe | |
| nun von zu Hause aus, und wir unterstützen mit etwas Technik. Und jeden | |
| Freitag, zu den Terminen, an denen das Projekt auch bei „Spy on Me #2“ | |
| laufen sollte, wird es online sein. James Bridle wird seine Lecture in | |
| Griechenland aufzeichnen. Ein Livestream ist wegen des schwachen Internets | |
| dort zu riskant. Aber es wird [3][über unseren YouTube-Kanal abrufbar] | |
| sein. Auch „Collectivize Facebook“, die Initiative von Jonas Staal zur | |
| Vergemeinschaftung von Facebook, wird in einer Onlineversion zu sehen sein. | |
| Wir haben also einen kleinen „Spy on Me #2“-Kalender, mit vier, fünf | |
| Dingen, die online funktionieren. Was wir später machen werden, beraten wir | |
| jetzt. Wir können Künstler*innen fragen, wie zum Beispiel Gob Squad:,Ihr | |
| könnt jetzt nicht proben. Aber gibt es vielleicht Sachen, die ihr machen | |
| könnt in dieser Übergangszeit?' Aber das ist noch in einer ganz embryonalen | |
| Phase. Ich denke, es müssen Sachen sein, die auf unseren Laptops und Handys | |
| funktionieren, alles andere macht meiner Meinung nach keinen Sinn. | |
| Wie bereiten Sie sich im Haus auf einen möglichen positiven Fall vor? Wie | |
| sind Sie gerüstet? | |
| Wir haben auf Homeoffice umgestellt und arbeiten jetzt auch mit einem A- | |
| und einem B-Team. Wir haben beschlossen, dass ich und meine | |
| stellvertretende Künstlerische Leiterin Aenne Quinones so wie auch der | |
| Verwaltungsleiter Lars Zühke nicht mehr gemeinsam in einem Raum sind. Das | |
| Gleiche gilt für die technische Leitung, die ebenfalls aus zwei Personen | |
| besteht. Wir teilen uns auf, um im Falle einer Quarantäne noch weiter | |
| arbeitsfähig zu sein. | |
| Was kann man vielleicht von Kanada und anderen Sars-erprobten Ländern | |
| lernen? Welche Strategien haben die Theaterkünstler*innen dort bei einer | |
| vergleichbaren Krise entwickelt? | |
| Nadia Ross erzählte mir, dass sie damals in einer früheren Kneipe | |
| produzierten. Aus Platzmangel spielten sie auf dem Dachboden – und das | |
| wurde unten in die Kneipe live gestreamt. Sie meinte: So könnte man | |
| Serienformate entwickeln direkt fürs Internet, das könnte interessant sein. | |
| Sie sagte mir aber auch, dass die Stadt Toronto etwas Besonderes tat, als | |
| die Krise vorbei war, um die Menschen wieder daran zu erinnern, was es | |
| bedeutet, zusammen zu sein. Sie veranstalteten ein großes Rolling | |
| Stones-Konzert bei freiem Eintritt. Und ich denke, dass es, sollte die | |
| Situation länger anhalten, und es uns in Fleisch und Blut übergegangen ist, | |
| uns nicht mehr zu umarmen, nicht mehr nahe beieinander in geschlossenen | |
| Räumen zu sein, dass es dann auch hier bei uns notwendig sein wird, den | |
| Theatern zu helfen, damit die Menschen wieder zu ihnen kommen. Langfristig | |
| glaube ich aber fest daran, dass es weiter eine Sehnsucht nach Theater und | |
| nach Zusammensein geben wird. | |
| 22 Mar 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tom Mustroph | |
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