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# taz.de -- Berliner Kultur im Corona-Exil: Kultur ist die beste Impfung
> Während sich die Mehrheit noch hypnotisieren lässt vom Krisen-Gerede,
> machen Berlins Kulturszenen ernst und explodieren vor Kreativität.
Bild: Unter „Collectivize Facebook“ wollen Jonas Staal und Jan Fermon die P…
Ohne Isolation ist keine Kreativität möglich. Hat irgendein deutscher
Autor, der sonst eher für dröge Literatur bekannt ist, mal geschrieben. Ein
Satz, der irgendwie Hoffnung macht in diesen Tagen des ja nicht nur
biopolitischen, sondern vor allem auch sozialen, politischen, ökonomischen
und ja, vor allem kulturellen „Ausnahmezustands“.
Und vielleicht können wir uns gerade in der kulturellen Petrischale Berlin
schon bald freuen auf eine Explosion kreativen Schaffens. Naja, zumindest,
wenn die Menschen nicht allzu preußisch an ihrer üblichen
Stress-Choreographie festhalten und ihre Home-Office-Zeit mit schlechten
Kopien ihrer Office-Office-Zeit verdingen, als hätte diese Art des
High-Speed-Kapitalismus in Kombination mit Lohnarbeitszwang noch irgendeine
Chance.
Als sei es nicht endlich an der Zeit, sich angesichts dieser weltweiten
Zwangsverlangsamung des Lebens schonmal darauf vorzubereiten, die
routinierte Beziehung [1][zur so genannten Work-Life-Balance] radikal zu
ändern, um sich neuen Lebensweisen zu öffnen.
Das mag idealistisches Geschwätz sein, aber was bleibt derzeit anderes
übrig? Innerhalb der Berliner Kulturszene jedenfalls scheint diese Frage
obsolet zu sein, hat doch die Isolation unter ihnen schon jetzt eine
kreative Explosion ausgelöst. So überbieten sich Berlins Musiker:innen,
Autor:innen, Künstler:innen, Kulturschaffende, aber auch die Theater, Clubs
und Museen mit Online-Angeboten, die das neue, ungewohnte, brutal einsame
Dasein als vereinzeltes, in familiären, wahl-familiären oder
wohngemeinschaftlichen Kleingruppen zusammengepferchtes Leben derzeit
erträglich machen.
Das legendäre Berliner Theater „Thikwa“ etwa hat seinen Betrieb spontan
umbenannt in „Couch-Theater“ und zeigt nun etliche „Thikwa Classics“ [2…
eigenen Video-Kanal], etwa das gefeierte wie provokante Stück „Dschingis
Khan“ von 2012, wo sich die drei Schauspieler mit Trisomie 21, deren
Beeinträchtigung früher oft pejorativ als „mongoloid“ bezeichnet wurde, m…
schweren Fellen bekleidet als „authentische Mongolen“ präsentieren.
## Solidarität ist mehr als nur klatschen
Geradezu unauthentisch, also das Künstliche umarmend, ist das vom
HAU-Theater präsentierte Festival [3][“Spy on Me #2“], das in dieser Woche
vom internationalen Netzwerk „dgtl fmnsm“ bespielt wird. „Hot Mess“
hinterfragt in Panels, Performances und Workshops die Chancen des Digitalen
jenseits binärer Denkweisen und diesseits von Algorithmen, die
intersektional und feministisch programmiert sind. So [4][diskutieren am
Freitag, 27.3., um 18.30] Uhr etwa Nakeema Stefflbauer, Gründer:in von
„FrauenLoop gUG“, eine Berliner NGO zum Coaching von Geflüchteten und
Migrant:innen in Tech-Berufen mit der Interaktions-Designer:in Nushin
Yazdani zum Thema „Future Tense: AI From the Margins“.
Während hier also Algorithmen sowas wie digitale Solidarität
einprogrammiert werden soll, geht es derzeit ja auch im Real Life oft um
diesen Begriff, der allerdings ganz unterschiedlich verwendet wird. Etwa
als sich moralisch überlegen fühlende Allzweckwaffe, die besonders jene von
den Dächern schreien, die sich ausruhen auf ihrer Überidentifikation mit
der „Krise“, indem sie in ihren gemütlichen Altbauwohnungen brav Gehorsam
praktizieren, und alle diffamieren, die vielleicht Angst haben vor ihrem
Zuhause, denen es dort zu eng ist oder die nicht mal eines haben.
Oder als eine Art Gewissensberuhigung, wenn etwa die Mitarbeiter:innen von
Supermärkten sowie die Krankenpfleger:innen und Ärzt:innen beklatscht
werden, während jedoch alle vergessen werden, die Solidarität nicht erst
jetzt benötigen: Obdachlose und Straßenkinder, unter denen allein in Berlin
Tausende zur besonders gefährdeten Risikogruppe gehören.
Zur Eindämmung der Corona Pandemie unter ihnen hat sich kurzerhand die
„Coruna- taskforce berlin“ gegründet. Weil gerade sogar die Suppenküchen
schließen müssen, ist die beste Hilfe Bargeld. Deshalb zahlen die
„Karuna-Obdachlosenlotsen“ täglich 10 Euro direkt an Betroffene aus und
dafür werden Spenden benötigt, [5][die hier gesammelt] werden.
## Semiotischer Virus
Eine weitere, weniger öffentlichkeitswirksame Dimension von Solidarität ist
nötig für die oben genannte Akteur:innen, die ebenfalls akute Finanzhilfe
benötigen, weil ihre Inhalte fast ausnahmslos kostenlos sind und sie etwa
wegen ausfallender Gigs, Vorführungen und Ausstellungen keine Möglichkeit
haben, Honorare zu bekommen. Ähnlich geht es den Clubs und Kneipen.
Neben den wichtigen, da sozial wie musikalisch hochdiversen Clubs
[6][“Schwuz“] und [7][“Aboutblank“] bitten etwa die Kollektivkneipen
[8][“Tristeza“], [9][“K-fetisch“], [10][“B-Lage“] um Spenden auf
Crowdfunding-Plattformen. Für alle anderen, etwa Musiker:innen ist die wohl
beste Unterstützung derzeit, ihre Werke auf Bandcamp zu kaufen, einer im
Vergleich zu Ausbeutern wie Spotify recht fairen Plattform, auf der sie den
Großteil der Erlöse selbst erhalten – und für sie selbst die wohl am 27. 3.
startende [11][Beantragung für staatliche Förderung].
Kritischen Köpfen sei zu guter Letzt noch der nun regelmäßig erscheinende
Podcast „Plague Pod“ vom kongenialen britischen [12][Verlag „Urbanomic“]
empfohlen, in dem Künstler:innen und Philosoph:innen wie Laura Tripaldi,
die Xeno-Dichterin [13][Amy Ireland], Reza Negarestani oder der
[14][“Xenogothic“-Blogger] Matt Colquhoun kontrovers über spekulative
Virologie, Herd-Immunität und Ernährungssicherheit diskutieren, stets
stilsicher unterbrochen von aktuellen Tracks aus dem Bereich Grime, Jungle
und Footwork oder, besonders wichtig derzeit: Sprach-Samples aus kritischer
Theorie.
Denn eines ist „Corona“ vor allem auch: er ist nicht nur ein biologischer,
sondern auch ein affektiver oder besser: semiotischer Virus, der sich am
liebsten über das ständige paranoide Sprechen über ihn überträgt. Sowohl in
den traditionellen als auch Sozialen Medien. Dabei haben Menschen in der
Isolation doch gerade Besseres zu tun als die ermüdende Reproduktion von
Stress. Nämlich Kunst produzieren – die vielleicht wirksamste Impfung.
26 Mar 2020
## LINKS
[1] https://blog.usejournal.com/manufacturing-normalcy-7633259f63b5
[2] https://vimeo.com/showcase/6873372
[3] https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/pdetail/2964/
[4] https://www.youtube.com/channel/UCWU0QgefOC8CcR7uzzwWwTQ
[5] https://www.karuna-sozialgenossenschaft.de/
[6] https://www.startnext.com/saveourschwuz
[7] https://www.startnext.com/whatever-you-take
[8] https://www.gofundme.com/f/support-tristeza
[9] http://gofundme.com/kfetisch
[10] https://www.gofundme.com/f/together-blage
[11] https://registrierung-eantrag.ibb.de/SitePages/Homepage.aspx
[12] https://www.urbanomic.com/
[13] https://www.academia.edu/24546212/Poetry_is_Cosmic_War_Interview_
[14] https://xenogothic.com
## AUTOREN
Philipp Rhensius
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