| # taz.de -- Freiberufler und Coronakrise: Berlins Prekariat ist krisenerprobt | |
| > Gut gelaunt in den Abgrund: Freiberufler sind besonders von der Pandemie | |
| > betroffen – und bleiben dank schneller Hilfe dennoch optimistisch. | |
| Bild: Dirty Doering legt sein Set am Holzmarkt auf und macht legal Corona-Party… | |
| Das Berliner Prekariat ist krisenerprobt. Viele sind zu einer Zeit in die | |
| Stadt gekommen, als die Mieten noch das kleinere Problem waren. Sie sind | |
| nach Berlin gegangen, weil sie sich hier mehr als irgendwo anders auf der | |
| Welt in Projekte stürzen konnten, für die man nicht unbedingt ausgefuchste | |
| Businesspläne parat haben musste. | |
| Wenn man sich mit einigen von Berlins rund 200.000 Freiberuflern unterhält, | |
| bekommt man viele Einblicke: etwa, dass sie Probleme mit dem Finanzamt | |
| haben, weil ihre Unternehmen zwar seit 20 oder 25 Jahren bestehen, aber | |
| eigentlich Liebhaberei seien. Verwunderte Beamte hätten gefragt, wie man | |
| denn von diesen Beträgen leben könne. | |
| Andere erzählten, wie sie nie aufhören konnten, immer mal wieder alles aus | |
| dem Geldautomaten zu ziehen, was der Dispo hergibt, um die nächste | |
| weltverändernde Idee zu realisieren. Dann aber habe leider ganz plötzlich | |
| das unverzichtbare Telefon wegen unbezahlter Rechnungen nicht mehr | |
| funktioniert. Und man habe sich am Monatsende regelmäßig die Frage | |
| gestellt, warum die Monate immer so schnell vorbeigehen und woher um alles | |
| in der Welt die Miete kommen soll. | |
| Es ist immer schwieriger in Berlin, das längst nicht mehr so arm und sexy | |
| ist wie in den Neunzigern und am Anfang des Jahrtausends, diesen | |
| unbesorgten Lebensstil aufrechtzuerhalten. Aber viele Existenzen operieren | |
| noch am Rande des Machbaren. Sie bauen auf ihren alten und darum günstigen | |
| Mietvertrag, machen einen Nebenjob, der nicht allzu wehtut, um sich die | |
| eigentliche Leidenschaft querzufinanzieren. | |
| Sie kommen hoch erhobenen Hauptes mit weniger als dem Existenzminimum | |
| durch, kleiden sich bei Humana ein, halten Kaffee zum Mitnehmen wegen | |
| seines Preises für verzichtbaren Schnickschnack, holen sich Bücher in der | |
| Tauschstation und machen beim Flohmarkt mit. Sie kultivieren Hand- und | |
| Spanndienste im Bekanntenkreis, geben Kindern in der Nachbarschaft | |
| Nachhilfe und lassen sich von deren Eltern am Monatsende zum Abendessen | |
| einladen. | |
| Diese Leute machen Berlin in normalen Zeiten noch immer so lebens- wie | |
| liebenswert. Und sie machen jenen Mut, die es nicht ganz so wild treiben | |
| und ihre Bilanzen ordentlicher führen, die aber in einer anderen Stadt | |
| vielleicht eher ein Leben mit Festanstellung gewählt hätten. | |
| Für diese Leute ist die Coronakrise einerseits eine Bedrohung wie für alle | |
| anderen auch. Sie finden es ebenso seltsam, nicht zu wissen, was nächsten | |
| Monat ist, und fragen sich, wann wir wieder zu jener Normalität | |
| zurückkehren werden können, die wir jetzt schon schmerzlich vermissen. | |
| Natürlich sind sie die Ersten, denen jetzt die Puste ausgehen würde, wenn | |
| die Krise länger dauern und die finanzielle Unterstützung ausbleiben würde. | |
| Und trotzdem nehmen sie es relativ gelassen. Viele sagen immer wieder, sie | |
| hätten schon Schlimmeres erlebt und oft viel näher am Abgrund gestanden. | |
| Sie nehmen diese Zeit vielleicht sogar leichter als andere, weil es endlich | |
| einmal nicht nur ihnen so geht. Und weil ihnen der Urlaub, den sie sich | |
| sonst nie leisten konnten, nun zwangsverordnet wurde. Plötzlich ist auch | |
| mal Zeit, innezuhalten, das eigene Leben zu sortieren und mal wieder | |
| darüber nachzudenken, ob es nicht der gesamten Menschheit ganz guttäte, | |
| wenn sie auch nur ein kleines bisschen mehr so ticken würde wie sie selbst. | |
| Nicht zuletzt aber sind diese Leute auch trotz allem gerade recht gut | |
| gelaunt, weil ihnen oft zum allerersten Mal der Staat unter die Arme | |
| greift. „Ich hatte noch nie so viel Geld auf einmal auf dem Konto“, meint | |
| einer der Soloselbständigen, die die taz befragt hat. Ein anderer: „Ich | |
| habe es damals verpennt, einen Gründerkredit zu beantragen, insofern fühlt | |
| sich das jetzt umso toller an.“ | |
| ## Der Ladenbesitzer | |
| Im Moment habe ich noch keine Angst, eher genieße ich die Ruhe. Seit 23 | |
| Jahren habe ich nun meinen Spielzeugladen für Neues und Recyceltes. Jetzt | |
| habe ich endlich mal Zeit, mich um Dinge zu kümmern, die sich angesammelt | |
| haben. Sortieren, aufarbeiten – und richtig ausmisten! Und ich habe viel | |
| Zeit für meine Kinder. | |
| Vor meiner Haustür habe ich so eine Art Selbstbedienungs-Flohmarkt | |
| aufgebaut. Es gibt Preisschilder und eine Pappe mit meiner | |
| Paypal-Verbindung. Hier in der Vorstadt läuft das natürlich nicht | |
| besonders, aber vielleicht mache ich das bald auch vor meinem Laden in | |
| Prenzlauer Berg. Bisher habe ich dort eine „Warenausgabe“ eingerichtet, in | |
| der man samstags wie bei der Notapotheke bestelltes Spielzeug abholen kann. | |
| Verkäufe über das Internet sind nicht so meine Welt, ich bin kein | |
| Computermensch. Meine Webseite habe ich vor 20 Jahren mal selbst gemacht, | |
| und sie wurde vor zwei Jahren von einem netten Nachbarn neu gebaut, weil | |
| ich nicht mal ein Impressum drin hatte. Und bei den sozialen Medien | |
| scheitere ich schon am Passwort. Natürlich rächt es sich jetzt, keinen | |
| Web-Shop zu haben, weil die Umsätze plötzlich komplett fehlen – das geht | |
| nicht lange gut. | |
| Aber ich denke auch oft an die Worte aus der Bibel: „Sehet die Vögel unter | |
| dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die | |
| Scheunen und euer himmlischer Vater nährt sie doch.“ Ich sorge mich weniger | |
| um mich, ich bin familiär gut eingebettet, mein Vater hält mich für einen | |
| „Lebenskünstler“ und war immer der größte Unterstützer dieser Kunst. | |
| Und wir haben zum Glück den Rettungsschirm des Staates. Der hat mich in 23 | |
| Jahren Selbstständigkeit, in der ich durch dick und dünn ging, noch nie | |
| unterstützt. Ich finde, es ist jetzt also mal höchste Zeit. Wenn ich | |
| tatsächlich die Soforthilfe bekomme, kann ich die dringendsten Rechnungen | |
| bezahlen. | |
| Aber ich sehe die Coronakrise auch als Riesenchance: Die Leute halten mal | |
| inne, und die Natur holt Luft – weltweit! Man muss endlich mal über diesen | |
| übertriebenen Konsum nachdenken. Und es finden sich unheimlich viele gute | |
| Ansätze für ganz neue Solidarität. | |
| Sorgen mache ich mir weniger um uns in Deutschland. Eher um die Menschen in | |
| den Flüchtlingslagern rund um Syrien oder in den Slums in Indien, wo es | |
| nicht mal fließendes Wasser gibt. Ich wünsche mir, dass die Welt etwas aus | |
| der Krise lernt und nicht so weitermacht wie vorher. | |
| Philipp Schünemann, 50, Inhaber von „Onkel Philipp’s Spielzeugwerkstatt“… | |
| der Choriner Straße in Prenzlauer Berg | |
| ## Die Musikerin | |
| Ich habe klassisches Klavier studiert und gebe drei Tage in der Woche | |
| Klavierunterricht. Außerdem bin ich Sängerin. Beim Hamburger Label | |
| Audiolith Records veröffentliche ich unter dem Namen Ira Atari Elektropop | |
| und gebe Konzerte. Am 29. Mai wäre das Release-Konzert meiner neuen Single | |
| „Berlin Berlin“, die am 17. April erscheint, gewesen. Das wird nun | |
| wahrscheinlich abgesagt – so wie alle Konzerte. | |
| Natürlich ist mit Schließung der Schulen auch sofort mein Klavierunterricht | |
| hinfällig geworden. Im Moment bekomme ich die Monatsbeiträge zwar noch | |
| gezahlt, aber niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Schulen wieder | |
| öffnen und der Unterricht wieder stattfinden kann. Ich bin sehr froh, dass | |
| ich einige Schüler habe, die mir mitgeteilt haben, dass sie weiterhin ihre | |
| Beiträge zahlen werden, egal was passiert. Das gab mir ein sehr gutes | |
| Gefühl und ließ mich besser schlafen. | |
| Vor ein paar Tagen habe ich erstmals online Klavierunterricht gegeben. Es | |
| war sehr anstrengend. Manchmal hört man gar nichts, manchmal kommt alles | |
| zeitverzögert an. Man muss viel präzisere Anweisungen geben. Dennoch bin | |
| ich froh, dass es einigermaßen funktioniert und ich meine Schüler einmal | |
| pro Woche sehen kann. | |
| Den April werde ich finanziell noch überstehen, rechne aber ab Mai mit | |
| Einkommenseinbußen. Insofern bin ich sehr froh, dass die Politik – | |
| insbesondere die Stadt Berlin – meiner Berufsgruppe so viel Aufmerksamkeit | |
| schenkt. 5.000 Euro Soforthilfe sind zwar kein hoher Betrag, aber | |
| kurzfristig hilft es auf jeden Fall weiter. Einen Kredit würde ich eher | |
| nicht aufnehmen, wovon sollte ich den auch zurückzahlen? Ich gehöre mit | |
| meinen Einkünften eher zur unteren Mittelschicht. Deshalb bin ich sehr froh | |
| und dankbar, dass dieser unbürokratische Antrag für Soforthilfe bewilligt | |
| und wahnsinnig schnell abgewickelt wurde. Die dazu passende Textzeile aus | |
| meinem Song: „Berlin Berlin, you make me feel like a Queen.“ | |
| Ira Göbel, 42, freie Musikerin und Klavierlehrerin | |
| ## Der Konzertveranstalter | |
| Corona bedeutet wirtschaftlich für mich, innerhalb eines Tages alle meine | |
| Einnahmen zu verlieren. Ausrufezeichen! Ich bin einerseits Künstler, | |
| Musiker, Klangkünstler, aber auch einer von den Tausenden Leuten in Berlin, | |
| die im Hintergrund arbeiten. Als Konzertveranstalter, Künstlerbetreuer, als | |
| Organisator – also in den Bereichen der Branche, die unsichtbar sind. Man | |
| redet die ganze Zeit nur von den Künstlern und Kreativen. | |
| Die Leute, die dafür sorgen, dass jemand auf der Bühne steht, sieht man ja | |
| meistens gar nicht. Bei einem Konzert, zu dem 1.000 Leute kommen, arbeiten | |
| ja alleine am Abend zur Durchführung schon 60 Leute im Hintergrund, und die | |
| sind meistens Freiberufler, Aufstocker oder Minijobber. Das fängt beim | |
| Catering an, geht über die Künstlerbetreuung, Security, Fahrer. Auch bei | |
| den Agenturen gibt es noch viele Freelancer, die zuarbeiten, ebenso bei den | |
| Festivals, für die ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, wie die | |
| Fusion oder das Melt. | |
| Durch die Krise kommt jetzt endlich mal raus, was schon lange falsch läuft | |
| – vor allem in der Kultur- und Konzertbranche. Dass es nur Hungerlöhne gibt | |
| für sehr viele Leute, dass alles immer weiter runtergeschraubt wird. Das | |
| ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie es sonst in der Gesellschaft läuft: | |
| Es gibt nur noch die da oben mit Geld und die unten ohne – dazwischen wird | |
| es immer weniger. | |
| Gerade in Berlin, wo jeder mitmachen will, partizipieren, teilhaben an | |
| diesem System – auf Teufel komm raus. Vernünftige Rücklagen zu schaffen ist | |
| in diesem System so gut wie unmöglich. Die meisten kommen gerade so über | |
| die Runden. Aber auch nur wenn man das Glück hat, einen alten Mietvertrag | |
| zu haben. Darum muss ich jetzt auch Schulden machen, indem ich meinen Dispo | |
| überziehe. | |
| Natürlich habe ich verfolgt, wie Bundesregierung und Senat vollmundige | |
| Versprechungen gemacht haben, wem alles geholfen werden soll – aber ich bin | |
| da langfristig eher pessimistisch, wer davon was abkriegt. Auch wenn der | |
| Berliner Senat in einem immensen Kraftakt die Corona-Zuschüsse von 5.000 | |
| Euro für Soloselbstständige auf den Weg gebracht hat und diese wirklich | |
| erstaunlich unbürokratisch ausgezahlt werden, bin ich mir nicht sicher, ob | |
| die Kulturszene der Stadt das überlebt. | |
| Das System ist einfach nicht ausgelegt für Patchwork-Biografien, wie sie in | |
| der Kulturbranche sehr häufig vorkommen. Am Ende werden die, die als | |
| „systemrelevant“ gelten, unterstützt, aber all die kleinen Selbstständigen | |
| werden wahrscheinlich durchs Raster fallen und Hartz IV anmelden müssen. | |
| Bestimmt werden sie noch nachbessern bei den Hilfen, aber dennoch werden | |
| viele davon nicht wirklich profitieren können, da bin ich sicher. | |
| Immerhin haben sie die Hürden bei Hartz IV gesenkt, diesen Weg werden jetzt | |
| viele erst mal gehen müssen, ich wohl auch. Und vor allem: Wenn die Krise | |
| vorbei ist, wird der Kultursektor nie mehr so sein, wie er einmal war. Die | |
| Stadt wird eine andere sein. Viele Läden werden eingehen. Ich meine jetzt | |
| nicht den Tresor oder das Berghain. Aber all die anderen, kleineren, die | |
| sonst gerade so über die Runden kommen: Wo sollen die das Geld hernehmen, | |
| wenn Wochen oder gar Monate alles dicht ist? Die ganze Subkultur basiert ja | |
| auf dem Von-der-Hand-in-den-Mund-Prinzip und von Leuten, die dieses | |
| schlecht bezahlte Leben leben wollen. | |
| Das ist ja eine Entscheidung, zu sagen, ich möchte etwas Kreatives machen, | |
| für andere Leute, brauche nicht so viel Geld, aber dafür mache ich etwas, | |
| das mir und anderen Leuten Spaß macht. Sonst würde man ja Jura studieren | |
| oder BWL. Aber genau diese Leute werden jetzt noch mehr verdrängt aus der | |
| Stadt. Alles verschärft sich in dieser Krise. | |
| Marc Weiser, 53, arbeitet seit den 90ern als Konzertveranstalter und | |
| Musiker. Er war Mitgründer des CTM-Festivals und kuratierte das | |
| Musikprogramm des Roten Salons der Volksbühne Berlin. | |
| ## Der Kneipenwirt | |
| Ich habe die Soforthilfe am Dienstag beantragt, am Mittwoch wurde sie dem | |
| Konto gutgeschrieben. Außerdem habe ich Gelder vom Bund bekommen, sodass | |
| ich erst mal zwei Monate überbrücken kann. Toll, extrem unbürokratisch! | |
| Ich war mir aber auch sicher, dass die Gelder fließen werden, denn gleich | |
| nach der Schließung der Bar musste ich ja Kurzarbeitergeld für meine | |
| Mitarbeiter beantragen, das war ebenfalls alles schnell durch. Auch das | |
| Crowdfunding für die Tomsky Bar, das ein paar Gäste für uns ins Leben | |
| gerufen haben, läuft sehr gut. Gerade sind wir bei 6.000 Euro, das erste | |
| Etappenziel wäre am 20. April erreicht. Allerdings wird das Geld erst nach | |
| Ablauf der Kampagne frei. | |
| Trotz Zuzug leben immer noch viele nette Leute in Prenzlauer Berg, die | |
| Durchmischung in der Bar ist also in Ordnung. In normalen Zeiten läuft das | |
| Tomsky gut, obwohl die monatlichen Ausgaben schon hoch sind: Miete, | |
| Umsatzsteuer und Gehälter. Ich hoffe, dass ich die Steuer stunden kann. | |
| Aber das ist relativ, denn irgendwann wird sie so oder so fällig. | |
| Das Haus, in dem sich die Bar befindet, war eines der ersten, die in der | |
| Straße saniert wurden, und die Bar ist der einzige Mieter, der die | |
| Sanierung überlebt hat. Es war nach der Wende von einem Westberliner | |
| Baulöwen gekauft worden. Freitags war während der Sanierung immer der Strom | |
| weg. Oder plötzlich waren Löcher in der Decke, wenn die Gäste kamen. | |
| Anschließend wurde das Haus scheibchenweise verkauft. | |
| Mit unserem heutigen Vermieter kann man reden, er ist im Augenblick sehr | |
| entgegenkommend. Aber wir zahlen jetzt trotzdem bruttowarm etwa 4.000 Euro | |
| im Monat. Man muss viel Bier verkaufen, um das zu erwirtschaften. Auf | |
| Restaurant dürfen wir nicht nicht machen, weil unsere Küche zwei | |
| Quadratmeter zu klein ist – und weil wir eine Raucherbar sein wollen. Im | |
| Moment besonders blöd, weil wir nicht wie Restaurants Essen zum Mitnehmen | |
| anbieten können. | |
| Aber der Staat wird das Tomsky schon noch ein Weilchen über Wasser halten. | |
| Ich versuche, entspannt zu bleiben und mir nicht zu viele Gedanken zu | |
| machen. Aber ich sorge mich um alle, die dranhängen, wie die Minijobber, | |
| die im Tomsky immer viel Trinkgeld bekommen haben. Und ich fürchte, dass | |
| die Hilfsbereitschaft abnehmen würde, wenn die Krise länger als drei Monate | |
| dauert. Der Staat funktioniert ja auch nur wie ein Unternehmen. | |
| Martin Kaltenmaier, 52, Betreiber der Tomsky Bar in der Winsstraße in | |
| Prenzlauer Berg | |
| ## Die Fitnesstrainerin | |
| Ich bin froh und sehr dankbar, das es mit der Soforthilfe so unkompliziert | |
| und sehr schnell geklappt hat. Ich habe mich erst am Sonntag in der | |
| Warteschlange angestellt, weil ich mir schon gedacht habe, dass der Ansturm | |
| groß sein würde. Aber dann hatte ich immer noch ungefähr 130.000 Wartende | |
| vor mir. Die Warteschlange konnte man im Internet auf der Seite verfolgen | |
| und es ging erstaunlich schnell vorwärts. Nach nicht einmal zwei Tagen kam | |
| die Bestätigung des Antrags und das Geld war auf dem Konto. Großes Lob an | |
| die Investitionsbank! | |
| Ich arbeite als Fitness- und Gesundheitstrainerin und als | |
| Bewegungstherapeutin in verschiedenen Fitnessstudios und | |
| Pflegeeinrichtungen. Das heißt: Ich arbeite viel mit Senioren im | |
| Reha-Sport. Das wird von den Krankenkassen bezahlt und über einen Verein | |
| gesteuert. Ich mache das vor allem deshalb, weil man ja nicht täglich acht | |
| Stunden Fitnesstrainerin von jüngeren Leuten sein kann. Das schafft man | |
| einfach körperlich nicht. Mehr als 24 bis 26 Stunden kann ich aber auch auf | |
| diese Art nicht arbeiten – und das, obwohl ich körperlich noch sehr fit | |
| bin. | |
| Als Fitnesstrainer kann man dementsprechend nur begrenzt verdienen. Ich | |
| denke, dass ich ungefähr 2.300 brutto im Monat verdiene. Das ist ein gutes | |
| Auskommen, was auch daran liegt, dass ich breiter aufgestellt bin als | |
| andere. Ich habe einen soliden Lebenswandel und eine kleine Reserve, | |
| weshalb in meinem Fall die 5.000 Euro reichen, um zwei bis drei Monate zu | |
| überbrücken. | |
| Auf das Internet werde ich eher nicht ausweichen können. Das Netz ist voll | |
| mit kostenlosen Übungsangeboten. Als Personal Trainer würde es vielleicht | |
| noch gehen, aber als Trainerin von größeren Gruppen ist es wichtig, | |
| persönlich präsent zu sein, Leute motivieren und korrigieren zu können. | |
| Gerade im Pflegeheim kann man das nicht ersetzen, wenn Leute von draußen | |
| reinkommen und Spaß und Abwechslung in den Alltag bringen. | |
| Ich hatte noch nie so viel Urlaub wie jetzt – ich bin in 16 Jahren einmal | |
| einen Tag lang krank gewesen. Das ist schon seltsam. Aber im Moment mache | |
| ich mir trotzdem Sorgen. Vor allem um meine Infrastruktur, die Vereine und | |
| Studios, von denen ich weiß, dass viele kaum Rücklagen haben und keine zwei | |
| Monate überstehen würden. | |
| Ich würde mir wirklich wünschen, dass die Menschen über ihren Tellerrand | |
| schauen und weiter ihre Beiträge zahlen. Viele haben ja sichere Renten, da | |
| sind 25 oder 30 Euro im Monat doch gut zu verkraften! Vereine und Studios | |
| denken auch darüber nach, dass die Kunden ihre Beiträge hintenran hängen | |
| können oder über Vergütungen und Rückerstattungen wiederbekommen, über | |
| Sommerfeste und so weiter. | |
| Sylvia Beckmann, 56, freie Fitnesstrainerin | |
| ## Die Coach | |
| Mein Geschäftsmodell ruht auf verschiedenen Säulen. Ich biete Rhetorik- und | |
| Konfliktmanagement-Seminare bei Bildungsträgern an. Ich berate Teams und | |
| Einzelpersonen, bilde Coaches aus, gebe als Bildungsurlaub anerkannte | |
| Seminarreisen und vermiete Räume an TrainerInnen und Coaches. Bis auf die | |
| Einzelcoachings bricht derzeit alles weg, allerdings finden diese dann | |
| digital statt, was die wirkliche Begegnung nicht ersetzen kann. Auch bei | |
| den Ausbildungen werden von den Berufsverbänden gerade viele Regeln | |
| gelockert, so dürfen einzelne Module derzeit sogar online abgehalten | |
| werden. | |
| Als vor zwei Wochen die Kontaktsperre beschlossen wurde, ist die | |
| Bereichsleitung der Volkshochschulen in meinen laufenden Kurs reingekommen, | |
| das war schon heftig. Gerade eben wollte ich meine Seminarreise nach Rügen | |
| absagen, aber die Hotelbesitzerin wollte lieber erst noch einmal abwarten. | |
| Ist ja logisch, ihr bricht ja auch gerade alles weg. Seit der Kontaktsperre | |
| habe ich mit Einzelcoachings noch 300 Euro eingenommen. Normalerweise komme | |
| ich auf 5.000 Euro Einnahmen im Monat, habe netto also etwa 2.500 raus. Im | |
| April werde ich fast keine Einnahmen haben. | |
| Zum Glück habe ich private Rücklagen und mein Partner ist in seinem Beruf | |
| noch wenig von der Krise betroffen. Als ich mich letzten Freitag für die | |
| Soforthilfe angemeldet habe, war ich in der Warteschlange auf Platz 38.347. | |
| Am Samstagabend um 21.27 Uhr erhielt ich eine Mail, dass ich an der Reihe | |
| bin, die ich aber leider nicht rechtzeitig gesehen habe. Daher musste ich | |
| mich neu anmelden und hatte dann die Nummer 228.956 mit 169.536 Menschen | |
| vor mir. Montagmittag konnte ich mich anmelden. | |
| Völlig überraschend waren die 5.000 Euro dann tatsächlich am | |
| Dienstagnachmittag auf meinen Konto. Davon kann ich zunächst betriebliche | |
| Kosten für zwei bis drei Monate decken. Meine privaten Unkosten und | |
| Verpflichtungen bleiben hierbei jedoch komplett außen vor. Dennoch bin ich | |
| wirklich sehr dankbar für diese unbürokratische Unterstützung in dieser | |
| schwierigen Lage. | |
| Auch wenn ich noch keine Existenzangst habe, sagen viele KollegInnen, dass | |
| sie es trotz Soforthilfe maximal zwei oder drei Monate schaffen. | |
| Gleichzeitig kann ich dieser Zeit ehrlicherweise auch etwas abgewinnen: | |
| Vieles macht Mut. Ich beobachte mehr Solidarität. In unserer Nachbarschaft | |
| bringen einige Älteren Einkäufe mit. Einer Freundin haben sie im | |
| Stammsupermarkt Klopapier zurückgelegt. Und die Debatte übers | |
| Grundeinkommen hat wieder an Fahrt aufgenommen. Zumindest in meiner kleinen | |
| Blase erlebe ich ein großes Zusammenrücken. | |
| Sandra Szaldowsky, 48, Coach und Kommunikationstrainerin | |
| 6 Apr 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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