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# taz.de -- Aus dem Leben einer Angestellten: Raus aus dem Hamsterrad
> Sollte man den 1. Mai nachholen, weil er auf einen Sonntag fällt?
> Unbedingt! Aber dabei auch an die denken, für die Feiertage
> Vollstresstage sind.
Bild: Viele Arbeitnehmer/innen fühlen sich im Hamsterrad gefangen
Hieß er Fiepsi oder Fred? Ich weiß nur noch, dass wir ihn belächelten, den
pelzigen kleinen Streber, der wie irre vor sich hin strampelte: im
berühmten Hamsterrad. Meine Schulfreundin hatte das Tier zum achten
Geburtstag geschenkt bekommen, wir fanden es süß und hielten es für ganz
schön bekloppt. „Warum rennt er denn die ganze Zeit?“, fragte ich die gro�…
Schwester meiner Freundin, sie war schon 15, praktisch erwachsen. „Das ist
wie Turnen für ihn, das macht ihm Spaß“, erklärte sie.
Nur ein Dutzend Jahre darauf wurde ich selbst zum Hamster. Es war die erste
Schockerfahrung des Erwachsenseins: Geld musste her, und damit es zu mir
kam, hatte ich meine Arbeitskraft zu verkaufen. Ich erinnere mich noch
genau, wie unwürdig, wie erniedrigend es mir in den ersten Berufsjahren
vorkam, dass ich meine „freien Tage“ fortan zu „beantragen“ hatte, auf
einem Formular, unter das ein Vorgesetzter seine Unterschrift zu setzen
hatte, „seinen Otto“, wie es dereinst hieß.
Bald lernte ich auch, was „Brückentage“ waren und mit welchen Tricks die
Älteren in der Belegschaft darum kämpften. Die besonders Ausgekochten
reichten ihre Urlaubsanträge für das gesamte Jahr schon Anfang Januar ein.
Zügig wurde mir klar, dass sogenannte Feiertage oft bedeuteten, dass,
erstens, Leute mit Kindern dabei Vorrang hatten, und dass, zweitens, die
liegengebliebene Arbeit anschließend im Eiltempo nachgeholt werden musste.
Sofort schlug das Durchschnaufen also wieder in hektisches Hecheln um.
Alle stierten auf den Kalender und waren enttäuscht, wenn der 1. Mai, der
„Tag der Arbeit“, auf einen dienstfreien Sonntag fiel – wie auch in diesem
Jahr wieder. Profis wissen: Ist der 1. Mai ein Sonntag, werden auch der
erste Weihnachts- und der Neujahrstag Sonntage sein. Es fühlt sich stets
aufs Neue an wie ein Betrug am kostbarsten, das ich besitze: meiner
Lebenszeit.
In Spanien, Irland, Großbritannien, Belgien und Luxemburg müssen die
Arbeitgeber in einem solchen Fall einen Ausgleichstag anbieten. Nun machen
sich auch hierzulande die Grünen und die Linke für ein gesetzlich
verankertes „Nachholen“ der kalendarisch weggeflutschten freien Tage stark.
Denn: „Jeder verlorene Feiertag bedeutet mehr Stress und weniger dringend
benötigte Erholung“, wie diese Woche [1][der Linkenpolitiker Jan Korte
verlauten ließ].
Ich bin ganz unbedingt fürs Nachholen! Gleichwohl weiß ich, dass die
Erholung letztlich doch bloß einen Zweck hat: Ich soll meine Arbeitskraft
gefälligst regenerieren, damit ich in den feiertagsfreien Wochen volle
Leistung bringe. Und während ich hier am Laptop handzahm herummaule, geht
mir noch Folgendes durch den Kopf: Für Millionen Menschen in der
Gastronomie, der Hotellerie, im Nah- und Fernverkehr, bei den
Sicherheitsdiensten, [2][im prekären Freelancerbusiness], [3][im
Gesundheitswesen] und – huch! – in den Medien sind die sogenannten
Feiertage sowieso eher Vollstresstage.
Wenn ich dann noch an den nächsten Sonntag denke, den 8. Mai, an dem dieses
Jahr der Muttertag stattfinden soll, verfalle ich erst recht in ein
garstiges Keckern. Beim Putzen, Kochen, Staub- und Kinderpopoabwischen
[4][gibt es bekanntlich niemals eine Pause], wirklich: never.
Ein „Recht auf Faulheit“ forderte der Franzose Paul Lafargue 1880. Möge
irgendwer nun bitte endlich irgendetwas erfinden, das uns jenem Ziel näher
bringt. Der Computer, so scheint mir, war es wohl nicht.
30 Apr 2022
## LINKS
[1] https://rp-online.de/politik/deutschland/1-mai-2022-faellt-auf-einen-sonnta…
[2] /Freiberufler-und-Coronakrise/!5675887
[3] /Situation-in-Kliniken-und-Heimen/!5846666
[4] /Podcast-We-Care/!5842825
## AUTOREN
Katja Kullmann
## TAGS
Arbeitnehmer
Tag der Arbeit / 1. Mai
Feiertag
Arbeitszeit
Schwerpunkt 1. Mai in Berlin
Konsumgesellschaft
Protokoll Arbeit und Corona
Schwerpunkt Coronavirus
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