| # taz.de -- Selbstständig durch die Corona-Krise: Immer noch gut gelaunt | |
| > Berlins Soloselbstständige sind besonders von den Lockdowns betroffen. | |
| > Doch sie bleiben erstaunlich optimistisch. Versuch einer Analyse. | |
| Bild: Gastronomen dürfen erst nach und nach wieder öffnen | |
| Es ist genau sechs Wochen her, dass wir mit Berliner Soloselbstständigen | |
| darüber sprachen, wie sie in der Zeit der Coronakrise über die Runden | |
| kommen. Sie alle konnten damals nicht mehr oder kaum noch arbeiten, | |
| verdienten nichts oder kaum mehr etwas – und kamen dafür dennoch | |
| ausgesprochen beschwingt daher. | |
| Wie viele der 200.000 Freiberufler in dieser Stadt waren die meisten von | |
| ihnen schon vor längerer Zeit nach Berlin gekommen, weil man sich hier | |
| nicht mehr so sehr wie früher, aber doch immer noch wegen der günstigen | |
| Mieten und Lebenshaltungskosten besser austoben kann als in jeder anderen | |
| Metropole Europas. Und sie alle hatten schon Schlimmeres erlebt: Termine | |
| des Grauens mit dem Finanzamt, lästige Nebenjobs zur Querfinanzierung der | |
| eigentlichen Berufung, volles Risiko, um das nächste große Ding zu | |
| realisieren. | |
| Viele Soloselbstständige müssen schon in normalen Zeiten mit weniger als | |
| dem Existenzminimum durchkommen, holen sich ihre Klamotten bei Humana und | |
| ihre Bücher in der Tauschstation. Für sie, so das Fazit damals, war Corona | |
| am Anfang der Krise nur eine weitere Hürde auf einem langen, steinigen, | |
| aber dafür wunderbar abenteuerlichen Weg. | |
| Seitdem ist viel passiert: Einige konnten ihre Läden wieder öffnen, andere | |
| fangen gerade wieder an zu arbeiten, manche wiederum wissen nicht, ob sie | |
| in diesem Jahr überhaupt noch zur Normalität zurückfinden werden. So sehr | |
| sich ihre Situation jetzt aber wieder unterscheidet, eines haben alle, mit | |
| denen wir nun erneut gesprochen haben, gemeinsam: Sie haben finanzielle | |
| Hilfe vom Staat bekommen – die meisten von ihnen zum ersten Mal in ihrer | |
| beruflichen Existenz. | |
| ## Die Krise als Chance | |
| Vielleicht ist das der Grund, warum das sogenannte Berliner Prekariat, das | |
| in dieser Stadt so viel bewegt hat und sie so liebens- und lebenswert | |
| macht, nicht nur weiterhin erstaunlich gut gelaunt scheint, sondern stärker | |
| noch als beim letzten Mal begonnen hat, über den Tellerrand, auf das | |
| Gemeinwohl und das Befinden der ganzen Welt zu blicken. | |
| Es geht ihnen objektiv wirklich nicht blendend, sie hätten Grund zu | |
| größerer Sorge als viele andere. Klar, sie lamentieren auch hier und da, | |
| das kann man vor allen jenen nicht verdenken, die sich um Mitarbeiter | |
| sorgen müssen und um hohe Mieten, die nach wie vor pünktlich gezahlt werden | |
| müssen. Aber sie sehen die Coronakrise dennoch unverdrossen als Chance zum | |
| großen gesamtgesellschaftlichen Kurswechsel. | |
| Sie wünschen sich etwa, dass die Menschen ihr Konsumverhalten überdenken, | |
| freuen sich darüber, dass die Umwelt endlich mal Luft schnappen kann. Sie | |
| erleben und begrüßen einen neuen gesellschaftlichen Zusammenhalt – und | |
| wundern sich über eine Politik, die diesem Zusammenhalt vielleicht manchmal | |
| nicht genug zutraut. | |
| Und das Erstaunliche ist: Sie tun dies mehr als noch vor sechs Wochen. Wenn | |
| derzeit wieder verstärkt über das bedingungslose Grundeinkommen diskutiert | |
| wird, kommt immer noch mit großer Hartnäckigkeit unter anderem auch das | |
| Gegenargument, dass sich die Menschen ohne den guten alten Motor | |
| Verwertungsdruck zurücklehnen würden, dass es Arbeit geben würde, die | |
| keiner mehr wird machen wollen. | |
| Wer sich unter Berlins Freischaffenden umhört, gewinnt den Eindruck, dass | |
| das Nonsens ist. Abgesehen davon, dass der Verwertungsdruck mit | |
| Grundeinkommen und Soforthilfe nicht aufhört: In normalen Zeiten träumt | |
| jeder gern mal von Ferien für immer. Jetzt aber fühlen sich alle | |
| unfreiwillig zum Nichtstun verdonnert und suchen sich – ebenso sinnvolle | |
| wie ehrenwerte – Ersatzbaustellen. | |
| Vor allem aber: Berlins Kreative fühlen sich plötzlich wieder gut | |
| aufgehoben in einer Stadt, die sie nicht immer mit Glacéhandschuhen | |
| angefasst hat. Dass sie ihnen einfach mal so und ohne viele Umstände ein | |
| bisschen Geld aufs Konto geschoben hat: fast ein Wunder. „Ich hatte noch | |
| nie so viel Geld auf einmal auf dem Konto“, meint einer der | |
| Soloselbstständigen, die die taz befragt hat. Ein anderer staunt: „Ich kann | |
| es immer noch nicht fassen.“ | |
| Man gewinnt den Eindruck, dass viele der Kreativen diese Zuwendung am | |
| liebsten schneller an die Gesellschaft zurückgeben würden, als es ihnen in | |
| der aktuellen Situation gut täte. Monetär wird das kaum möglich sein, | |
| ideell auf jeden Fall. Berlin kann froh sein, dass es diese Leute hat. | |
| 16 May 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Messmer | |
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