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# taz.de -- Corona und Vergangenheitsbewältigung: Alles ist Bonuszeit
> Unsere Autorin hat eine Immunschwäche und ist in einer Sekte
> aufgewachsen. In der Quarantäne holt die Vergangenheit sie ein.
Bild: Da blüht etwas – aller Angst zum Trotz
Ich bin in Quarantäne aufgewachsen. Nicht weil ich krank war, das wurde ich
erst später, sondern weil ich in eine Sekte hineingeboren wurde. Knapp drei
Handvoll Menschen, geschart um einen aus allen Nähten an Speck und
Bedeutsamkeit platzenden Arzt; nennen wir ihn „Trigger“. Er hatte einen
Hang zu betrunkenen Autofahrten und grausamen Regeln.
Wir mussten vor ihm auf die Knie gehen. Wir durften die Stadt nicht
verlassen, keine Freunde haben und Trigger nicht in die Augen schauen – er
war zu heilig. Trigger verdammte Demokratie und „Rassenvermischung“. Er sah
überall Feinde: Die Kirche hörte angeblich unsere Telefone ab, Politiker
waren Dämonen, die uns vernichten wollten, und Ärzte – bis auf Trigger
selbst, versteht sich – waren zu meiden, weil ihre Medikamente tödlich
waren. Eine Auffassung, die zwei Mitglieder unserer Gruppe später das Leben
kosten würde. Der Weltuntergang stand jeden Tag aufs Neue vor der Tür. Es
war unsere Aufgabe, ihn abzuwenden.
In meiner Kindheit gab es keinen Urlaub und keine Ausflüge. Ich bin nie auf
einen Baum geklettert, konnte weder schwimmen noch Fahrrad fahren. Ich
wusste nicht, wie sich Sand unter den Fußsohlen anfühlt oder wie
Möwenschreie klingen. Ich kannte die Weite der Berge ebenso wenig wie die
behagliche Enge von Zugabteilen und Zelten. Mein erstes Buch war ein
Lexikon: Ich wollte wenigstens Wörter kennenlernen, wenn schon Orte
verboten waren. Ich musste ein Jahr lang dafür kämpfen.
Danach arbeitete ich mich zu Märchen und Sagen vor. Ging auf Odyssee,
hüllte mich in Mios weichen Unsichtbarkeitsumhang, durchritt mit Parzival
die Fremde auf der Suche nach dem Heiligen Gral. Ich liebte Geschichten, in
denen der Held sein Zuhause verlassen musste, um glücklich werden zu
können.
In der Welt, in der ich lebte, waren Abschiede lebensgefährlich. Wer
ausstieg, wer sich auch nur einen Zweifel erlaubte, verkündete Trigger, der
würde sterben. Er würde erst verarmen und alle Freunde verlieren, dann
schwer erkranken und in der Gosse unter unvorstellbaren Schmerzen
krepieren. Ich war fünf Jahre alt, als mir klar wurde, dass ich Zweifel
hatte. Also fing ich an, auf den Tod zu warten. Es brauchte jahrzehntelange
Therapie, um damit aufzuhören.
## Das war der Moment, in dem ich Angst bekam
Ich habe eine Immunschwäche. Absurderweise wähnte ich mich genau deswegen
gerüstet gegen Covid-19. Ich tat das Virus über Wochen und Monate hinweg
als Grippeäquivalent ab, dem ich mit meinen üblichen Vorsichtsmaßnahmen
begegnen konnte: Einkaufen nicht vor 22 Uhr oder sehr früh morgens.
Aufenthalt in Bus und Bahn nicht länger als fünfzehn Minuten. Schal um Nase
und Mund. Handschuhe auch bei warmem Wetter. Dann kamen die Nachrichten aus
Italien: Menschen, die in überfüllten Krankenhäusern starben, ohne ihre
Lieben noch einmal umarmen oder auch nur sehen zu dürfen. Das war der
Moment, in dem ich Angst bekam, dass Covid-19 die von Trigger prophezeite
Apokalypse sein könnte.
Prophezeiungen sind wie Horoskope: Man selbst füllt die Leerstellen aus,
man selbst erzählt sich eine Geschichte, die schrecklich viel Sinn ergibt.
Meine Immunschwäche hat mir allein im letzten Jahr 26 Infektionen, 10
Runden Antibiose und ein Isolierzimmer im Krankenhaus beschert. An Arbeit
war kaum zu denken gewesen; das mit der Verarmung, dem ersten Indiz für
meine ganz private Apokalypse, passte also, und das mit der Vereinsamung
auch. „Jetzt“, dachte ich, während die Headlines immer lauter um
Aufmerksamkeit buhlten, „jetzt hat es angefangen.“
Die Drohungen, mit denen ich aufgewachsen bin, fühlten sich an wie
Zaubersprüche: Magisch und wahr. Aber Magie ist ein Wahnsystem; es
funktioniert nur, wenn alle stillhalten. Sobald nur einer sich weigert,
mitzumachen, wird es zu Staub zerfallen. Erst als sich die Angst in meinem
Nacken festbiss, erst als sich Triggers feistes Gesicht wieder in meine
Träume schlich, wurde mir klar, dass ich nie aufgehört hatte, mitzumachen.
Ich habe nie wirklich Abschied vom Glauben meiner Eltern genommen. Bis
jetzt.
Die Psychologin Verena Kast beschreibt Trauer als vierstufigen Prozess: 1.
Nicht-Wahrhaben-Wollen, 2. Aufbrechende Emotionen, 3. Suchen und
Sich-Trennen, 4. Neuer Selbst- und Weltbezug. Die erste Phase hat bei mir
30 Jahre gedauert, die zweite fünf Jahre. Absurderweise erleichtert es mir
der Lockdown, Abschied zu nehmen: Er erinnert mich an alles, was geholfen
hat, meine Kindheit zu überleben.
Die erste Strategie heißt Verbindung. Wenn andere außer sich geraten, wird
es in mir still. Ich habe früh gelernt, hinter Verrücktheit und Grausamkeit
auch den Schmerz meines Gegenübers wahrzunehmen. Schmerz war meine einzige
Möglichkeit, Verbindung zu anderen zu spüren, und Verbindung war Trost. Ich
suche bis heute in jeder Begegnung nach einem verbindenden Element, auch
wenn es manchmal lange dauert. Der trotzige Glaube an einen gemeinsamen
Boden trägt mich auch jetzt. Was uns alle derzeit verbindet, ist Angst.
Auch die Instagrammer, die mit einem Avocadotoast auf der Couch sitzen und
ein kollektives Trauma für sich in Anspruch nehmen, weil ihnen das
Menschenrecht auf Aperol Spritz im Biergarten genommen wurde, haben Angst.
Auch die Lyriker, die bei Facebook ihre vom Waschen strapazierten Hände
präsentieren und beklagen, dass ihre Corona-Soundpoeme immer noch nicht als
systemrelevant deklariert wurden.
Auch die Solo-Selbstständigen, die Fördergelder beantragen können, während
Senioren und Vorerkrankte keinen Zuschuss für ihre Grundsicherung
erhalten. Auch die Kreativen, die vollmundig in Vlogs und Podcasts
beschreiben, wie sie zu zerbrechen drohen, während dort draußen tatsächlich
Menschen zerbrechen, leise und ungehört, in zu kleinen Wohnungen mit
gewalttätigen Familienmitgliedern, im Krankenhaus oder auf der Straße.
## Ich habe gelernt, mit mir allein zu sein
Ich glaube, dass aus dieser Angst Verständnis entstehen kann. Ich glaube,
dass die Mehrheitsbevölkerung jetzt zum ersten Mal die Belastung jener
Menschen erahnt, die aufgrund von Behinderung oder Erkrankung ohnehin nicht
am „normalen“ Alltag partizipieren können. Die aufgrund fehlender
gesundheitlicher und finanzieller Ressourcen, vor allem aber aufgrund
gesellschaftlichen Desinteresses in die Unsichtbarkeit gerutscht sind.
Jetzt, wo Gefühle der Einsamkeit und der Fragilität ein Mehrheitsproblem
geworden sind, besteht die Chance, dass auch jene gehört werden, denen man
vorher nicht zugehört hat.
Die zweite Strategie klingt profan: Ich habe gelernt, mit mir allein zu
sein. Bevor ich lesen konnte, erdachte ich Feen und Kobolde, die nachts
zwischen den Vorhangspalten hervorlugten und mir Geschichten erzählten.
Tagsüber starrte ich in die Wolken oder beobachtete die Eichhörnchen, die
einander stammauf, stammab durch den Garten jagten. Auch der kleine
Grünfleck hinter dem Haus, in dem ich jetzt lebe, beherbergt einen Baum.
Ich bin bereit, ein weiteres Mal die Jahreszeiten in ihm vorüberziehen zu
sehen. Ist es draußen warm und sonnig, öffne ich die Flügeltüren des
Wohnzimmerfensters und lege mich auf meine Yogamatte, extended „Shavasana“
sozusagen; übersetzt heißt dieses Wort „Todesstellung“. Das Licht fällt …
mein Gesicht, auf meine geschlossenen Augen: Das ist mein Gebet, ein Gebet
ohne Gott, und es bringt mir Frieden.
„Wir sind immer fertig, wir sind nie fertig“, schrieb Roger Willemsen. Es
gibt kein Recht auf Leben, alles ist Bonuszeit. Wenn wir Glück haben, gibt
es Menschen, die etwas in uns zum Schimmern gebracht haben. Wenn wir Glück
haben, sind wir mehr geworden, als uns genommen werden kann.
19 Apr 2020
## AUTOREN
Dana Buchzik
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