# taz.de -- Auf einer Bank im Nirgendwo: Verbunden mit der Welt | |
> Trüber Stimmung mache ich alleine eine Radfahrt über Land. Ich fahre | |
> einen Hügel hinauf und die Kraft geht mir aus. Und dann war da diese | |
> Bank. | |
Bild: Auf der Bank liebt neben mir ein Stein. Er wirkt wie eine Antwort | |
Meine Stimmung ist umgeschlagen wie das Wetter. Seit Tagen sind Wetter und | |
Stimmung das erste Mal trüb. In den letzten Stunden ist durchgesickert, | |
dass die Lockerungen der Corona-Maßnahmen auch nach Ostern begrenzt | |
bleiben werden. Ich mache mir Sorgen um die große Welt und um viele kleine | |
Welten. | |
In den letzten Wochen waren viele Menschen tapfer. Jetzt spüre ich stark, | |
was ich vermisse. Lebendigkeit, Ungezwungenheit, Musik, Kinos, Kneipen. | |
Freunde und Fremde. Ich mache mir Sorgen um unsere freiheitlichen | |
Grundwerte. Um die Kinder, die so lange schon nicht mehr in die Kitas | |
dürfen. Um Eltern und Selbstständige, die verzweifeln. Um Einsame. Ich | |
mache mir Sorgen, dass es vor lauter Angst vor dem Tod zu wenig um das | |
Leben neben dem Überleben geht. So vieles geht durch meinen Kopf. Ich muss | |
raus. | |
Ich mache eine Radfahrt, allein. Doch ich komme nicht in Fahrt, weil ich | |
den Weg oft für das Ziel unterbreche, nach der Route auf dem Handy suche. | |
An einer Weggabelung bleibe ich stehen. Rechts in einer geteerten Straße | |
vermute ich den richtigen Weg. Links führt der Weg hinauf in ein Waldstück. | |
Von dort läuft ein älterer Mann auf mich zu: „Kann ich Ihnen helfen?“ In | |
seiner Stimme klingt Sehnsucht nach Resonanz. „Wissen Sie, welcher Weg | |
schöner zum Radfahren ist?“ Er zeigt hinauf zum Wald: „Der Pfad ist steil. | |
Haben Sie Kraft? Wenn ja, fahren Sie hinauf.“ | |
Ich habe Lust, dem Zufall zu vertrauen, und fahre in den Wald. Der Weg ist | |
uneben. Die Kette springt ab. Ich bereue jetzt, dass ich mich habe | |
verleiten lassen. Dann geht es noch steiler einen Hügel hinauf. Auf der | |
Hälfte des Anstiegs steht eine Bank. Die Bretter der Sitzfläche sind | |
abgesplittert. Ich steige ab. Ich habe plötzlich keine Kraft mehr. Ich | |
setze mich. Die Pause tut gut. Ich schaue über eine Wiese. Um mich ist weit | |
und breit kein Mensch. Es ist eigentümlich still. Ich lasse meinen Blick | |
schweifen, schaue dann auf die Bank: Das kann nicht sein. | |
## Es ist, als könnte jemand meine Gedanken lesen | |
Neben mir liegt ein Stein. Darauf ist ein Wort geschrieben: „Durchhalten.“ | |
Die Schrift zieht sich rund um eine gelbe Sonne. „Durchhalten.“ Der Stein | |
wirkt wie eine Antwort. Als könnte jemand meine Gedanken lesen. Ich nehme | |
den Stein in die Hand. Er ist glatt und rund. Die Person, die ihn bemalt | |
hat, hat sich damit Mühe gemacht. Die Buchstaben sind golden vorgemalt, | |
dann mit schwarzem Stift nachgezogen. Der Stein glänzt wie lackiert. | |
So viel Aufwand, um ihn an diesen einsamen Ort zu legen. Im Nirgendwo auf | |
eine morsche Bank, ohne als Erschaffer je zu erfahren, was der Stein | |
auslöst, ob er überhaupt gefunden wird. Der Stein will nichts. Ich wiege | |
ihn in der Hand. Es rührt mich, wie er hier wie nebenbei abgelegt wurde. | |
Auf der Hälfte des Weges. Für die Erschöpften, die den Hügel hinaufkommen. | |
Genau an der Stelle, wo es am schwierigsten ist. Wo nicht mehr die Euphorie | |
des Anfangs und noch keine Erleichterung durch das nahe Ziel zu spüren ist: | |
Durchhalten. Es ist schön, dass dieses Wort auf einer Form steht, die ich | |
berühren kann, die wie eine Verbindung wirkt: Ich bin da, ich kenne dich. | |
Ich weiß, was gerade in dir los ist. Nimm das. Halte durch. | |
Dann erst, nach Minuten, drehe ich den Stein um. Auf der Rückseite steht | |
noch etwas: „Mut-mach-Stein gegen Corona“. Für einen Moment habe ich | |
Gänsehaut. Plötzlich, allein hier draußen, fühle ich mich verbunden mit der | |
Welt und der Person, die ihn hier abgelegt hat. | |
Ein Satzfetzen klingt in meinem Kopf – „..., der werfe den ersten Stein“, | |
Worte aus der Bibel. Der Tod durch Steinigung. Er geschieht | |
gemeinschaftlich durch viele einzelne, die einen Stein werfen. Jeder macht | |
sich verantwortlich. Vielleicht ist es andersherum genauso: Belebung wird | |
geschaffen durch einzelne, die einen Stein ablegen. Ich spüre nun auch | |
Aufforderung: Durchhalten. Aber auch Haltung zeigen. Nicht nur Opfer der | |
Umstände sein. Etwas bewegen. Sei es mit einem einzigen Stein. | |
Ich möchte den Stein weitertragen und stecke ihn ein. Der Weg ist nun | |
schwerer, doch etwas ist auch leichter. Das letzte Stück hinauf denke ich, | |
dass ich selbst einen Stein bemalen und ablegen möchte. Wo auch immer das | |
ist. Was auch immer das ist. Es gibt viele Weisen, einen Stein zu bemalen. | |
19 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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