# taz.de -- Literatur in der Corona-Krise: Wer überlebt, wer wird geopfert? | |
> Welchen Geschichten werden wir folgen? Von Albert Camus bis zum | |
> Zombiefilm: In Zeiten des Coronavirus kommt es auch darauf an, was wir | |
> uns erzählen. | |
Bild: Die Postapokalypse hat Konjunktur: Mann mit Mundschutzmaske in Prag | |
Vor acht Wochen habe ich Atemschutzmasken gekauft. Dafür gab es zwei | |
Gründe: die Meldungen aus der Stadt Wuhan in China und das Buch „Das Licht | |
der letzten Tage“ von Emily St. John Mandel, eine Postapokalypse. | |
Am Anfang dieses Romans erhält Jeevan, einer der Protagonisten, einen | |
Telefonanruf von seinem einzigen Freund, einem Krankenpfleger. Dieser | |
arbeitet in einer Klinik und fordert ihn auf, sofort die Stadt zu | |
verlassen, in der, wie landesweit auch, eine hoch ansteckende und tödlich | |
verlaufende Grippe grassiert: „Jeevans Vorstellungen davon, wie man sich | |
auf Katastrophen vorbereitete, stammten ausschließlich aus Actionfilmen, | |
aber andererseits hatte er eine ganze Menge Actionfilme gesehen.“ | |
Und deshalb überlebt Jeevan. Er schafft nach dem Anruf Vorräte in seine | |
Wohnung und wartet ab. Da der Roman selbst schon reflektiert, dass sich | |
unser Wissen über Katastrophen nicht aus Erfahrungen, sondern aus medialen | |
Bildern und Vorstellungen speist, dieses Wissen darum aber nicht falsch | |
sein muss, dachte ich, Atemschutzmasken könnten doch ein guter Kauf sein. | |
Dystopien, Endzeiten und Postapokalypsen haben seit einiger Zeit | |
Konjunktur: Romane, Filme und Serien entwerfen Weltuntergänge im Zeichen | |
ökologischer Desaster und Genmanipulationen, der Virenkriege und Pandemien, | |
technologischer Überwachungsapparate und demografischer Krisen. | |
Im Kern verhandeln sie die Frage, was unter katastrophalen Bedingungen von | |
uns Menschen überbleibt, ob und in welchem Maße es Solidarität geben kann | |
im Überleben: Regiert das Faustrecht des Stärkeren, werden Schwächere | |
geopfert, welche Gemeinschaften bilden sich, welche Ressourcen gibt es, wie | |
werden sie verteilt? | |
## Gesellschaft im Seuchenmodus | |
Damit geben sie Imaginationen vor, die sich um die nüchternen Daten der | |
Virolog*innen und Verlautbarungen der Politiker*innen herum aufbauen | |
und ihnen eine narrative und affektive Richtung geben. Die Zombie-Serie | |
„[1][The Walking Dead]“ ist zum Beispiel ein passender Spiegel der | |
Gesellschaft im Seuchenmodus. | |
Die untoten „Beißer“ sind unschwer als infizierte Menschen lesbar, die den | |
noch Gesunden nachstellen beziehungsweise umgekehrt: Sie verkörpern die | |
Angstvisionen der noch nicht Infizierten, die angesichts der vielen Kranken | |
um sie herum panisch um ihre Gesundheit fürchten. Die Heftigkeit der | |
Affekte, die das Coronavirus auslöst, ließ sich früh erahnen, als in | |
Berliner S-Bahnen keiner den Türöffner drücken wollte oder jemand in der | |
U-Bahn hustete und sich der Waggon in Windeseile leerte. | |
Jede Postapokalypse entwirft Überlebensgemeinschaften. Am häufigsten | |
erfolgt nach dem raschen Zusammenbruch staatlicher Strukturen die Rückkehr | |
in den Naturzustand, der Krieg aller gegen alle. Es tobt der | |
Ressourcenkampf: In der „Mad Max“-Reihe wird ein Liter Benzin wichtiger als | |
ein Menschenleben. | |
Weltuntergänge heben nicht nur demokratische Prinzipien, sondern auch als | |
unverrückbar geltende Tabus auf: In [2][„Die Straße“ von Cormac McCarthy], | |
der vielleicht dunkelsten, traurigsten und hoffnungslosesten literarischen | |
Postapokalypse, markiert das Nichtessen anderer Menschen die letzte | |
zivilisatorische Barriere. | |
Vater und Sohn ziehen durch eine verheerte Welt, in der die Sonne | |
verdunkelt ist, keine Pflanzen mehr existieren, dafür aber einige | |
Überlebende zu Kannibalen mutiert sind. Immer wieder versichert sich der | |
Sohn dieser letzten Grenze, die sie von den „Bösen“ trennt: „Wir sind im… | |
noch die Guten?“ | |
Unter Endzeitbedingungen, das lernt man in diesem Roman, reduziert sich | |
Gutsein darauf, nicht schlecht zu sein. Am stärksten schmerzen die Gesten | |
verweigerter Hilfe. Der Junge will anderen beistehen, sein Vater weiß, dass | |
das unmöglich ist. Vor allem die Begegnung mit einem anderen Kind, das der | |
Sohn mitnehmen will, der Vater aber nicht, stellt die Leser*innen vor die | |
Frage: Wie hätte ich gehandelt? | |
Wie Katastrophen stellen auch Viren Beziehungen auf die Probe: Welche | |
Bindungen haben Bestand, wann übernimmt die Angst vor der Ansteckung das | |
Kommando? Welche Hilfe wird gewährt, wann siegt der Egoismus? Isolation, | |
Solidarität und Gemeinschaft: Videos gingen viral, die zu Hause | |
festsitzende Italiener in verschiedenen Städten beim Singen zeigten; aus | |
dem Fenster hinaus, von Balkonen hinab, gemeinsame Lieder gegen die | |
Isolation. | |
## Solidarität und soziale Distanz | |
Merkels Merksatz „Solidarität heißt jetzt soziale Distanz“ ist hier | |
kongenial umgesetzt – nicht zuletzt wird beim gemeinsamen Singen das | |
Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet, das sich sonst bei körperlicher | |
Berührung freisetzt. Schöne Bilder, mutmachend. | |
Die Affekte, die das Virus herausbringt und erzeugt, reichen von panischen | |
Aufrufen, doch bitte, bitte die Wohnung nicht mehr zu verlassen, über | |
Gruppen, die Hilfe für unterstützungsbedürftige Personen anbieten, bis hin | |
zu denen, die alles für übertrieben halten und dem Impuls des „Nun erst | |
recht!“ folgen – oder gerne folgen würden, hätten Bars und Clubs nicht | |
schon geschlossen. | |
Doch wie hoch ist die Halbwertszeit dieser Haltungen angesichts der Rasanz | |
der Ereignisse: Nachrichten zeigen, wie in Italien mancherorts die Toten | |
durch das Militär in Lkws abtransportiert werden. Bilder, die tatsächlich | |
apokalyptisch anmuten. | |
Der Medizinhistoriker Philipp Osten hat die Pandemie als historisches | |
Ereignis bezeichnet, das sich in unser Gedächtnis eingraben wird. Eine | |
Erschütterung also, die jede und jeden und alle zugleich trifft. | |
Bewältigungsstrategien bestehen nicht nur in Verleugnung, Panikkäufen und | |
Solidaritätsaktionen, sondern auch in der Suche nach historischen | |
Vorbildern: Zum Bestseller entwickelt sich gerade Albert Camus' „Die Pest“. | |
## Infizierte Affekte | |
Dass es sich um einen Roman von 1947 und kein topaktuelles Seuchensachbuch | |
handelt, zeigt, dass die nackten Zahlen der Virolog*innen offenbar den | |
Wunsch nach imaginärer Orientierung erzeugen: Wohin geht die Reise? Die | |
infizierten Affekte müssen sinnvoll geordnet werden, sie brauchen | |
Narrationen; Geschichten, in denen es gut oder schlecht ausgeht. Vor allem: | |
überhaupt weitergeht! | |
Damit zurück zum „Licht der letzten Tage“. Der Roman weicht vom üblichen | |
Postapokalypsenschema ab: den Weltuntergang überleben nicht nur Kannibalen | |
und Marodeure, sondern vor allem ganz normale Menschen wie Jeevan, wie du | |
und ich. | |
Aber auch „der Prophet“ hat überlebt. Er ist die negative und böse Figur | |
des Romans. Auch seine Überlebensstrategie speist sich aus Bildern. | |
Seine verdüsterte Weltsicht ist von der Bibel inspiriert und auch von den | |
Comics, die seine Mutter gezeichnet hat, als er ein Kind war: „‚Die | |
Grippe‘, sagte der Prophet, ‚die große Reinigung, die uns vor 20 Jahren | |
heimsuchte, diese Grippe war unsere Sintflut. Das Licht, das wir in uns | |
tragen, ist die Arche, die Noah und seine Leute über die furchtbaren Wasser | |
trug, und ich möchte behaupten, dass wir gerettet sind […]. Wir wurden | |
gerettet, weil wir das Licht sind. Wir sind die Reinen.‘“ | |
## Reinheitsfantasien und Territorien | |
Reinheitsfantasien werden vom Körper und vom Kollektiv schnell auf das | |
Territorium übertragen, und Grenzschließungen, wie sie im Zeichen des Virus | |
überall stattfinden, sind ja schon länger en vogue. Flüchtlinge lassen sich | |
so aussperren, fraglich, ob sich das Virus auch so aussperren lässt. Bilder | |
des Ein- und Ausschlusses, des Shutdowns und Herunterfahrens sind | |
ambivalent: beklemmend, aber auch befreiend – nicht schlecht, wenn alles | |
mal zur Ruhe kommt, Entschleunigung und auch gut fürs Klima, finden viele. | |
Wenn die Angst vor dem Virus selbst ein Virus ist, dann hat das | |
Coronavirus das Imaginäre infiziert. Wie stark hier die Ansteckung | |
verläuft und welche Symptome wir entwickeln, hängt auch von den | |
Bilderwelten ab, die uns geprägt haben und die wir aufrufen oder denen wir | |
widersprechen: vom Faustrecht des Stärkeren am Klopapierregal bis hin zum | |
trotzigen Tanz auf dem Virusvulkan. | |
Dabei bilden sich sicher auch Mehrfachmutationen aus Realität, Bild und | |
Medien aus: so aktualisierte die fragwürdige Feierei einiger am Beginn der | |
Krise das altbekannte Bild vom Tanz auf dem Vulkan, das nicht nur für | |
unangemessene Sorglosigkeit steht, sondern vor allem für das böse Ende, das | |
diesem Treiben folgt. | |
## Angst in Wut transformieren | |
Das Magazin bento fragte bei der Polizei verschiedener Städte nach, die | |
diese Feierei nicht bestätigen konnte. Ob nun Realität oder Medienphänomen | |
(auch bento hatte vorher über Partys berichtet) oder vermutlich beides: die | |
„Corona-Party“ wurde zum kollektiven Symbol für die Verantwortungslosen, in | |
dem sich die Angst vor dem Virus kanalisieren und zur Wut transformieren | |
konnte. | |
Welchem Narrativ werden wir folgen? Mir persönlich gefällt die Haltung der | |
„Symphonie“ in „Das Licht der letzten Tage“. Diese fahrende Truppe füh… | |
Shakespeare-Stücke mit Orchesterbegleitung auf. Sie kämpfen nicht um | |
Benzin, töten liegt ihnen fern, aber sie verteidigen sich. Auf einen ihrer | |
nun von Pferden gezogenen Wohnwagen haben sie ein „Star Trek Voyager“-Zitat | |
geschrieben: „Überleben allein ist unzureichend“. | |
29 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Elke Brüns | |
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