# taz.de -- Kulturelles Corona-Loch: Virologie-Podcast statt Hörbuch | |
> Sinnstiftung durch Literatur und Kunst? Nicht alle Aspekte des | |
> kulturellen Lebens sollten auf Pandemiewirtschaft umgestellt werden. | |
Bild: Mit einem Lufkissen und einem Buch lässt sich die Krise gut überstehen | |
In Krisenzeiten wird unsere diskursive Energie, die gesamte Aufmerksamkeit, | |
die Menschen sonst auf viele verschiedene Dinge verteilen, von einer Sache | |
– der Krise – aufgesogen. Literatur und Feuilleton haben in solchen | |
Momenten einen schweren Stand. | |
Kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erzählte der Autor [1][Jay | |
McInerney,] wie er in der New Yorker Wohnung des Romanciers Bret Easton | |
Ellis eine Einladung für die Release-Party eines Buches gesehen habe und | |
ihm erleichtert der Satz entschlüpft sei: „I’m glad I don’t have a book | |
coming out this month.“ Er sei froh, dass er gerade kein Buch | |
veröffentlicht habe. Ein Gedanke, der ihm angesichts der Ereignisse als | |
egoistisch und trivial erschien, von dem er aber ahnte, dass der Kollege | |
ihn verstehe. Niemand würde in dieser Woche über Romane reden. | |
Die Anekdote erinnert an die Situation, in der sich Kultur und speziell | |
Literatur gerade befindet. Die weltweite Ausbreitung des Coronavirus stellt | |
eine existenzielle Krise dar, die alle Aufmerksamkeit für sich beansprucht. | |
Konzentration ist ein knapp bemessenes Gut, und auch die Qualität der Zeit | |
als Bedrohungszeit hat sich verändert. Sie fühlt sich gleichermaßen bleiern | |
und flüchtig an. | |
Die erste Lüge, die professionellen Leser*innen über diese Situation | |
einfiel, war: Jetzt haben wir endlich Zeit zu lesen. Aber man hat nicht den | |
Eindruck, als würde viel gelesen, zumindest nicht Romane oder Gedichte. | |
Wenn überhaupt fließt die Lektüreenergie in die Refresh-Funktion unserer | |
Browser – auf der Suche nach neuen Meldungen. Statt Hörbüchern hört man | |
Podcasts mit Virologen, statt Filmen schaut man Pressekonferenzen. | |
## Frühjahrstitel verschoben | |
Die Verlage haben dieses Aufmerksamkeitsdefizit deutlich zu spüren | |
bekommen. Einige verschieben Teile ihrer Frühjahrsprogramme in den Herbst. | |
In der Zeit wird Felicitas von Lovenberg, die Leiterin des Piper Verlags, | |
mit den Worten zitiert: „Niemand möchte ins Corona-Loch fallen“, in eine | |
„Zeit womöglich minimaler Aufmerksamkeit“. | |
Für das kulturelle Leben bedeutet das „Corona-Loch“ also vor allem eine | |
aufmerksamkeitsökonomische Leerstelle. Die Freizeitressourcen und die | |
emotionale Energie, die man aufbringen müsste, um ein Buch, einen Film oder | |
eine Serie zu rezipieren, verrauchen in der alltäglichen Arbeit daran, die | |
Bedrohung überhaupt zu verarbeiten. | |
Es ist deshalb nicht überraschend, dass auch die Feuilletons teilweise auf | |
Pandemiewirtschaft umgestellt haben. Es gibt Corona-Tagebücher, | |
Corona-Fortsetzungsromane, Leselisten für die Quarantäne und | |
literaturgeschichtliche Aufrisse der Seuchenliteratur. Auch aktualisierende | |
Lektüren von Klassikern finden statt. | |
Für den Tagesspiegel etwa liest Gerrit Bartels noch einmal Thomas Manns | |
„Der Zauberberg“, um dem eigentümlichen Zeitgefühl dieser Tage | |
näherzukommen. Und in der FAZ widmet sich Claus Leggewie einer eingehenden | |
Lektüre von Albert Camus’ „Die Pest“, auf dessen Erwähnung gerade kein … | |
im Feuilleton verzichten kann. | |
## Erfordernisse der Bedrohung | |
Dazu kommen die zahlreichen Artikel, die darüber berichten, wie die Kultur | |
im konkreten Sinne, das heißt vor allem finanziell, durch die Pandemie | |
bedroht wird – wie der Buchhandel reagiert oder wie Theater und Kinos | |
betroffen sind. Und nicht nur die Feuilletons haben sich auf die Krise | |
ausgerichtet, auch die Kunst selbst stellt sich auf die Erfordernisse der | |
Bedrohung ein. | |
Die ersten Corona-Songs lassen sich bereits anhören, unter anderem von | |
U2-Frontmann Bono und der Band Die Ärzte. Lyrik und lyrics sind – im | |
Gegensatz zur Prosa – schnelle Gattungen, und man kann gespannt sein, wie | |
viele Texte dieser Art in den kommenden Wochen noch entstehen werden. | |
Gegen die Ausrichtung des literarischen Diskurses auf Pandemiewirtschaft | |
ist auf qualitativer Ebene gar nichts einzuwenden. Man liest die | |
Tagebücher, Artikel und Listen mit einer gewissen Bewunderung über die | |
große Sinnstiftungsenergie, die durch die Krise freigesetzt wird. | |
Gleichzeitig macht sich aber auch ein klaustrophobisches Gefühl diskursiver | |
Einengung bemerkbar. | |
Alles, was nicht die Bedrohung betrifft, erscheint plötzlich unerheblich. | |
Nachzügler etwa in der Debatte um die Veröffentlichung der Memoiren von | |
Woody Allen – vor wenigen Wochen noch ein höchst gegenwärtiges Thema – | |
wirken plötzlich seltsam historisch. Gerade hatte die Gesellschaft noch ein | |
Reservoir an Debattenenergie, das in eine Kontroverse über Ästhetik und | |
Ethik investiert werden konnte. Dieses Reservoir ist jetzt leer. | |
## Den Wert unter Beweis stellen | |
Für die Feuilletons und die Literatur ist das ein Problem. Zwar scheint es | |
zunächst so, als würden sie sich in der Krise in besonderer Weise bewähren, | |
ihren gesellschaftlichen Wert unter Beweis stellen. Allerdings werden sie | |
so auch auf die Frage nach ihrem Nutzen eingeschränkt. Die Krise führt zu | |
einer herrischen Gegenwart, die von der Kultur einfordert, sich ihren | |
Gegebenheiten unterzuordnen. | |
Denn in der aufmerksamkeitsökonomischen Mangelwirtschaft ist die Literatur | |
auch in ruhigeren Zeiten immer ein Luxusgut, ständig bedroht von anderen | |
Prioritäten. Und diese grundsätzliche Priorisierung zeigt sich nun in der | |
extremen Form des „Corona-Lochs“, in das alle Veröffentlichungen fallen, | |
die sich nicht der thematischen Zuspitzung auf die Bedrohung unterwerfen. | |
Dem entspricht auf der nackten materiellen Ebene die Nachricht, dass Amazon | |
gerade Bücher nur mit großen Verzögerungen ausliefert und stattdessen | |
Gesundheits- und Haushaltswaren bevorzugt. | |
Prioritätensetzungen dieser Art lassen sich in Zeiten, in denen Leib und | |
Leben so breitflächig bedroht sind und gesellschaftliche Strukturen ins | |
Wanken geraten, kaum vermeiden. Da hilft auch ein trotziges Beharren | |
darauf, dass Feuilleton und Literatur einen hohen gesellschaftlichen | |
Stellenwert haben, nichts. Lieber sollte man darauf hoffen, dass sich die | |
Zeiten bald wieder ändern und die Aufmerksamkeitsressourcen, die gerade von | |
existenziellen körperlichen Fragen beansprucht werden, wieder in kulturelle | |
Fragen investiert werden können. | |
Feuilletons und Literatur sind eben nicht nützlich auf der gleichen Ebene | |
wie Grundnahrungsmittel oder Beatmungsgeräte. Ihre relative Nutzlosigkeit | |
ist ein Teil dessen, was ihren gesellschaftlichen Wert ausmacht. | |
## Diskursive Verengung | |
Der Germanist Christoph Jürgensen hat in seiner Studie „Federkrieger. | |
Autorschaft im Zeichen der Befreiungskriege“ gezeigt, wie sich Dichter und | |
Kommentatoren in den europäischen Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, | |
in Zeiten einer diskursiven Verengung also, dem Primat des Nützlichen | |
unterwarfen, indem sie eine Flut von patriotischen Liedern hervorbrachten, | |
die dem Schwert die Leier gleichberechtigt an die Seite stellen sollte. | |
Diese Ausrichtung der Kultur auf die Kriegswirtschaft mag zwar | |
ausgesprochen produktiv und in gewisser Weise auch effektiv gewesen sein – | |
große Kunst hat sie nicht hervorgebracht. Auch wenn diese historische | |
Analogie natürlich in vielfacher Hinsicht nicht funktioniert, führt sie vor | |
Augen, was passieren kann, wenn sich Kulturschaffende vollkommen den | |
Forderungen einer herrischen Gegenwart unterwerfen. | |
Ein sich regender Unwille über eine Überproduktion an Kommentaren und | |
Analysen zur Pandemie, ein Vielzuviel an sogenannten „Hottakes“, ist in der | |
gegenwärtigen Krise bereits zu verspüren. Statt gegen „Federkrieger“ | |
richtet sich dieser Unwille gegen allzu beflissene „Diskursvirologen“. | |
Großen Ärger hat sich etwa der Theoretiker Giorgio Agamben durch seine | |
machtkritischen Einlassungen zum Thema eingehandelt. Und als bekannt wurde, | |
dass der hyperproduktive Publizist Slavoj Žižek bereits ein ganzes Buch zur | |
Pandemie geschrieben und auf den Weg der Veröffentlichung gebracht hatte, | |
ergoss sich in den sozialen Medien ein Fass aus Hohn und Spott über ihn. | |
Die Autorin Merve Emre kommentierte ein Foto des Buchcovers auf Twitter mit | |
den Worten: „Go – and I cannot stress this enough – fuck yourself.“ Die… | |
unfreundliche Aufforderung wurde inzwischen über tausendmal gelikt. | |
## Wie in ruhigen Zeiten | |
Es ist vielleicht eine gute Idee, der Stimmung, die dieser Unwille | |
transportiert, zu folgen und nicht alle Aspekte des kulturellen Lebens auf | |
Pandemiewirtschaft umzustellen. Stattdessen zeigt sich der Wert von | |
Feuilleton und Literatur womöglich vor allem dort, wo sie auch in der Krise | |
weiter das zu bieten vermag, was Menschen an ihr in ruhigeren Zeiten | |
schätzen. | |
In den sozialen Medien etwa werden Lesungen gerade überall gestreamt, und | |
auch ansonsten wird ein beeindruckender Aufwand betrieben, um das große | |
Gespräch über Literatur, das sich unsere Gesellschaft leistet, im Bereich | |
des Digitalen weiterzuführen. | |
1 Apr 2020 | |
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[1] /Roman/!5195723 | |
## AUTOREN | |
Johannes Franzen | |
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