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# taz.de -- Corona und der Alltag: Das Leben der Anderen
> Wir leben nicht in dem Ausnahmezustand, den der Philosoph Giorgio Agamben
> beschreibt. Aber die Corona-Krise trifft nicht alle gleichermaßen.
Bild: Potenziell gefährlich: Die zwischenmenschlichen Beziehungen werden sich …
An einem Dienstag vor gar nicht langer Zeit: Ganz [1][Italien] wurde wegen
der Ausbreitung des Coronavirus zur Sperrzone erklärt, die Nachtzüge ins
Nachbarland waren ohnehin schon gestrichen. Hier in Österreich wurden alle
Indoor-Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen abgesagt.
Beide Maßnahmen betrafen mich konkret: Unsere für Ostern geplante Reise
nach Sizilien mussten wir absagen, auch das Konzert von der Band [2][Die
Sterne], das am selben Abend hätte stattfinden sollen, wurde gecancelt. Die
Karte dafür hatte ich zu Weihnachten bekommen. Als auf diese Weise
Weihnachten und Ostern für mich zusammenfielen, war mir klar: Der
Ausnahmezustand ist da.
Symbolisch gesprochen. Aber auch wenn Freizeitaktivitäten wie Reisen und
Konzertbesuche allein alles andere als ausschlaggebend sind: Der
Ausnahmezustand ist nicht jener, den der Philosoph [3][Giorgio Agamben] an
der Grenze zwischen Recht und Politik verortet hat. Es handelt sich
überhaupt nicht um die „Schaffung einer Zone der Unbestimmtheit“ (Agamben),
in dem Rechtlosigkeit ins Rechtssystem integriert wird. Es ist ein
sozialer Ausnahmezustand, er schneidet tief in die alltäglichen Abläufe
und Gewohnheiten ein.
Nach diesem Dienstag geht es Schlag auf Schlag: Die Museen, Theater und
auch die Unis werden geschlossen – in Österreich hat das Semester schon
begonnen –, ein paar Tage später dann auch die Schulen, Kindergärten und
die Geschäfte. Nur Supermärkte, Post und Apotheken bleiben geöffnet.
Derweil liegt die Sterberate für die Krankheit Convid-19 in Italien bei um
die 7 Prozent, das sind in Norditalien zwischen 200 und 400 Personen – pro
Tag! Zweifellos erleben wir in Europa das einschneidendste Ereignis nach
dem Zweiten Weltkrieg.
## Nie waren alle so betroffen
Gegen die Effekte, die die Anti-Corona-Maßnahmen haben, erscheinen all die
anderen Einschnitte bloß als punktuell und partikular, der autofreie
Ölschocksonntag, Tschernobyl, selbst Bau und Fall der Berliner Mauer. Nie
waren alle dermaßen betroffen. Die Ausgangsbeschränkungen treffen alle, ins
Kino oder Restaurant kann niemand mehr. Der Dax legt den schnellsten
Absturz der Geschichte hin, das betrifft langfristig nicht nur
börsennotierte Unternehmen. Und doch betrifft die Corona-Krise, und das ist
entscheidend, nicht alle gleichermaßen.
Wenige Tage nach dem ausgefallenen Sterne-Konzert telefoniere ich mit einem
Freund, der selbstständig als Mischer und Techniker im
Veranstaltungsbetrieb tätig ist. Bis Anfang Juni habe er nun nichts mehr zu
tun, erzählt er. Alles abgesagt. Ihm entgehen rund 25.000 Euro Einnahmen.
Da entstehen ganz andere Probleme als jene, die meine Kolleginnen und
Kollegen an den geistes- und sozialwissenschaftlichen Instituten (mehr oder
weniger) plagen: Was soll die vom Bildungsminister verkündete „Umstellung“
auf E-Learning eigentlich konkret bedeuten?
Die Pflegekraft aus Tschechien und der polnische Bauarbeiter können nicht
auf Homeoffice umstellen. Die Supermarktkassiererin muss arbeiten und ist
einem viel höheren Ansteckungsrisiko ausgesetzt als alle anderen. Der
Plattenhändler darf nicht arbeiten und muss um den Fortbestand seines
Geschäfts fürchten.
Aber es geht nicht nur um Unterschiede in ökonomischer Hinsicht. Die
Besorgten bis Panischen in meinem Bekanntenkreis sind überwiegend Frauen.
Männlich hingegen sind meist jene, die Gelassenheit bis Gleichgültigkeit,
aber auch Ahnungslosigkeit verkörpern. Die klassische Geschlechtertrennung
wird bestätigt und vertieft. Wer braucht da welche Unterstützung?
## Das gemeinsame Schicksal
Dieser Tage ist ja viel von Solidarität die Rede. Der österreichische
Gesundheitsminister appelliert in jeder Pressekonferenz daran, aber auch
ohne Appell entstehen in vielen deutschen Städten solidarische Praktiken
von Einkaufs- und Nachbarschaftshilfen. Meist wird dabei das gemeinsame
Schicksal aufgerufen, Corona betreffe eben alle. Aber das ist
problematisch.
Schon die Ansprache des österreichischen Bundeskanzlers sollte skeptisch
machen, denn neben den „lieben Österreichern und Österreicherinnen“ leben
im Land schließlich noch 1,5 Millionen Menschen ohne österreichische
Staatsbürgerschaft. Das sind 16,7 Prozent der Gesamtbevölkerung, die nicht
angesprochen werden.
Wenn Gleichheit zur Voraussetzung für Solidarität gemacht wird, kommt sie
schnell an ihre Grenzen. Viele fallen raus. Jede Anrufung des nationalen
Zusammenhalts überdeckt schließlich Klassen- und Geschlechterdifferenzen.
Das gilt auch für das „Team Österreich“, das jetzt die Krise meistern sol…
Ganz davon abgesehen, dass eine Pandemie natürlich nicht an Staatsgrenzen
haltmacht. Solidarität sollte gerade jenen gegenüber geübt werden, die
weder Schicksal geschweige denn nationale Zugehörigkeit teilen. Die
fundamentalere Sorgen haben als die Verfügbarkeit von Klopapier.
Solidarität gegenüber seinesgleichen ist vergleichsweise einfach. Und
beschränkt. Solidarität aber mit jenen, mit denen man nichts gemeinsam hat,
darum geht es. Gerade von jenen, die jetzt keine 80-jährige Mutter oder
keine Verwandte haben, die an der türkisch-griechischen Grenze festsitzen,
ist eine solidarische Haltung verlangt. Um diese Solidarität, die keine
Gemeinsamkeit zur Bedingung hat, werden die künftigen sozialen Kämpfe
geführt werden.
## Schilderung der Pest
Derweil sitzen wir noch in unseren Wohnungen, ein bisschen so, als würden
wir [4][Michel Foucaults] Schilderung der Pest aus „Überwachen und Strafen“
performen: „Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen.
Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben:
Ansteckung oder Bestrafung.“
Foucault zielte darauf ab, die Seuche als Ausgangspunkt für die
Durchsetzung einer neuen Machttechnik zu beschreiben. Die Pest leitete die
Entstehung der Disziplinarmacht ein. Jede Krise greift auch in die
Machtordnungen ein. Foucault allerdings schrieb rückblickend, wir hingegen
haben diese Neuordnung noch vor uns. Und sind daran beteiligt.
Giorgio Agamben sprach in einem aktuellen Beitrag zur Corona-Krise von
„hektischen, irrationalen und völlig unbegründeten Notstandsmaßnahmen, die
wegen einer mutmaßlichen Epidemie […] ergriffen wurden“. Eine krasse
Verkennung der Lage angesichts des exponientiellen Anstiegs der
Ansteckungskurve. Und angesichts der Situation in Norditalien.
## Geldbußen für das Verlassen des Hauses
Sicherlich mag die breite Akzeptanz von Geldbußen für das Verlassen des
Hauses bedenklich erscheinen. Aber sie ist zumindest ambivalent. Denn die
Präsenz des Staates ist hier nicht bloß Disziplinierungsmacht. Es geht ja
nicht um Zurechtweisung, sondern um den Schutz der Schwächeren.
Insofern kann diese Krise auch helfen, die allgegenwärtige Logik des
unternehmerischen Handelns und die anhaltenden Privatisierungen zu
delegitimieren. Denn eine privatisierte Welt kümmert sich um die
Schwächeren einen Dreck. In dieser Hinsicht hatte Agamben dann vielleicht
doch recht: Leben im Ausnahmezustand, schrieb er in seinem Buch zum
Ausnahmezustand 2003, biete immer auch die Chance, das „Funktionieren der
Maschine zu unterbrechen“.
Die Sterne haben schon einen neuen Termin für das ausgefallene Wien-Konzert
anberaumt. Es ist der 12. Juni. Auch das strahlt Optimismus aus.
21 Mar 2020
## LINKS
[1] /Ausbreitung-des-Coronavirus/!5670275/
[2] /Frank-Spilker-ueber-Die-Sterne/!5664861&s=die+sterne/
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Giorgio_Agamben
[4] /Zum-30-Todestag-von-Michel-Foucault/!5039258&s=martini+michel+foucault/
## AUTOREN
Jens Kastner
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