# taz.de -- Experimentelle Musik aus Berlin: Wildes Zeug | |
> Der Neuköllner Club Sameheads und das Berliner Musikprojekt Die Wilde | |
> Jagd mixen krude Klänge mit Clubmusik und seltsamen Sagen. | |
Bild: Cover der Platte „Zeug!“ von Sameheads Records | |
Der Neuköllner Club Sameheads ist nicht nur für seinen avantgardistischen | |
Sound und seine rauschenden Feste bekannt, sondern auch für das obskure | |
Zeug, das dort herumsteht und die Location wie eine begehbare Installation | |
wirken lässt. | |
„Zeug!“ heißt folgerichtig [1][ein Sampler], den die Sameheads-Belegschaft | |
veröffentlicht hat. Es ist der dritte in einer Reihe von clubeigenen | |
Kompilationen, auf denen befreundete Künstler:innen zu hören sind. Vier | |
Tracks enthält „Zeug!“, und die Besetzung hat es in sich. So ist beim | |
ersten Song gleich mal der rumänische Synthie-Frickel-Pionier Rodion G.A. | |
beteiligt, er schickt uns in einem gemeinsamen Track mit dem belgischen | |
Produzenten Mameen 3 in eine ferne Umlaufbahn, in der sich Krautrock à la | |
Kraftwerk, Disco und Achtziger-Pop auf wundersame Weise vereinen. | |
Auch hinter dem Duo Shakey verbergen sich zwei in der experimentellen und | |
elektronischen Musikszene bekannte Namen: Silvia Kastel und Wilted Woman | |
gastierten in den vergangenen Jahren regelmäßig in Berliner Clubs, Kastel | |
überzeugte zuletzt etwa mit ihrem [2][Album „Air Lows“]. | |
In dem gemeinsamen Stück “Steel Dub“ zeigt sich bei beiden eine ausgepräg… | |
Liebe zu Synthesizern; der Sound des Duos wären mit den Attributen | |
glibberig, fluide und wabernd halbwegs zureichend beschrieben. | |
## Musik nach einem Gemälde | |
Zu entdecken gibt es darüber hinaus einen hochgradig tanzbaren | |
Ethno-Elektro-Track von Anatolian Weapons (alias Aggelos Baltas), sowie ein | |
repetitives und perkussives Stück der Produzenten Don’t DJ und Dane Close, | |
die hier unter dem Namen Kreng gemeinsame Sache machen. Das liebevoll | |
gestaltete Artwork mit dem im Club entstandenen Cover-Motiv lohnen die | |
Investition in die Vinyl-Version – ganz abgesehen davon, dass man dem | |
Sameheads auf diese Weise in Corona-Zeiten ein bisschen was in die Kasse | |
spült. | |
Avantgardistisches gibt es auch von Die Wilde Jagd zu hören – allerdings | |
auf vollkommen andere Art und Weise. Der eigentümliche Name des | |
Musikprojekts von Sebastian Lee Philipp geht auf die Volkssage der „Wilden | |
Jagd“ zurück – und auf ein actionreiches, apokalyptisches Ölgemälde des | |
norwegischen Malers Peter Nicolai Arbo, das diesen Mythos abbildet | |
(„Åsgårdsreien“, 1872). Seine Musik bezeichnet Philipp als eine Art | |
Soundtrack zu diesem Bild. | |
Wie passend diese Einschätzung ist, das zeigt sich auf dem dritten Album | |
des in Berlin ansässigen Musikers, das den schlichten Titel [3][„Haut“ | |
trägt]. Denn die vier Stücke darauf – zwischen neun und 14 Minuten lang – | |
sind ähnlich verschlüsselt, vieldeutig und abenteuerlich wie das Gemälde. | |
Ihre Ursprünge hat die Musik im Krautrock, in der Kosmischen Musik und in | |
der Düsseldorfer Schule – kennengelernt haben sich Philipp und | |
Wilde-Jagd-Produzent Ralf Beck auch im Düsseldorfer „Salon des Amateurs“. | |
Für „Haut“ wären diese Referenzen aber eine zu ungenaue Einordnung. | |
## Scratches und Sagen | |
Im 10-Minuten-Stück „Himmelfahrten“ etwa finden sich Anleihen an indische | |
und fernöstliche Rhythmen genauso wie 80s-Synthesizer-Klänge, technoide | |
genauso wie rockige Passagen, und einige Teile erinnern gar an | |
Scratch-Sounds im HipHop. Dazu kommt ein im Wortsinne sagenhafter Text, | |
gesungen von Philipp und Gastsängerin Nina Siegler: „Wenn der Aal im großen | |
Wagen/ Und der Bär im siebten Haus/ Woll’n wir ihre Früchte tragen/ Ihnen | |
nur am Nächsten sein“. | |
Die Texte erinnern allesamt an die Lyrik längst vergangener Epochen, im | |
abschließenden „Sankt Damin“ reimt Philipp: „Voll Kriegeslust/ Mundet der | |
Liebeskuss/ Tief ist sein Fieberfluss/ Trink auf, trink auf“. Diese | |
altertümliche Sprache kann befremdlich wirken, zumal ihr eine hochaktueller | |
Musikentwurf gegenübersteht, ein Mix aus Field Recordings, Ambientklängen, | |
Breakbeats, Dub-Sounds sowie experimentellen und groovigen Percussions und | |
Drums, die von Schlagzeuger Ran Levari eingespielt wurden. | |
Aber diese Lust am Geheimnisvollen, am Gegensätzlichen und an der | |
Irritation sind es dann auch, die „Haut“ so interessant machen. | |
30 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://sameheads.bandcamp.com/album/zeug | |
[2] https://blackesteverblack.bandcamp.com/album/air-lows | |
[3] https://diewildejagd.bandcamp.com/album/haut | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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