# taz.de -- Der Hausbesuch: Aus der Zeit gefallen | |
> Enikö Ginzery spielt Neue Musik auf einem alten Instrument, dem Cimbalon. | |
> Als freischaffende Künstlerin hat sie es in der Corona-Krise schwer. | |
Bild: „Der Klang des Instruments ist tragisch-melancholisch wie mein Leben“… | |
Musik ist Schönheit im Augenblick. Daran hält [1][Enikö Ginzery] sich fest, | |
jetzt, wo sie in ihrer Einzimmerwohnung im Erdgeschoss in Berlin sitzt und | |
nicht weiß, wovon sie leben soll. | |
Draußen: Gerade ist alles ruhig in der Lüderitzstraße im Berliner | |
[2][Bezirk Wedding]. Keiner kommt krakeelend aus dem Späti, der nie | |
schließt. Niemand stellt Müll neben die Bäume, alte Kühlschränke, | |
zerbrochene Stühle. Die Bierkneipen sind zu und ob sie, wenn sie wieder | |
öffnen, dann immer noch „Alte Liebe“ und „Alte Zeiten“ heißen, ist | |
ungewiss. Nur der Kartoffelladen hat auf. Ein Brandenburger Bauer verkauft | |
hier Gemüse und Suppenhühner. Er fragt sich, ob Corona nicht ein bewusst | |
gestarteter Angriff auf die Alten sei, so was wie demografischer | |
Terrorismus. Enikö Ginzery weiß keine Antwort darauf, aber Gemüse kauft sie | |
dort gern. | |
Drinnen: Wäre es möglich, alles, was zum Leben gebraucht wird, übereinander | |
zu stapeln, Ginzery würde es versuchen, um mehr Luft in ihrer kleinen | |
Wohnung zu haben. So aber steht direkt neben dem Bett das große Cimbalon, | |
das wie ein Miniaturflügel ohne Tasten aussieht. Gegenüber stehen ein | |
kleineres Cimbalon, ein Schminktisch und ein Tischchen mit PC. Für ein | |
Bücherregal und zwei kleine Sofas ist im Zimmer auch noch Platz. Vom Bett | |
aus kann Enikö Ginzery ein Bild sehen, das ihr Vater für sie malte. Darauf | |
ist ihr Hund. „Der hat mein Instrument gehasst.“ | |
Die Enge: Ein richtiges Engegefühl entstehe abends, wenn sie die Rollläden | |
runter lasse, weil die Menschen, die auf der Straße vorbeilaufen, ihr sonst | |
ins Zimmer schauen. „Dann bin ich wie eingeschlossen.“ Zu Zeiten, als das | |
Leben noch normal war, tauschte sie die Enge ihrer Erdgeschosswohnung oft | |
mit Hotelzimmern, denn als Cimbalonspielerin ist sie viel unterwegs, wird | |
angefragt, wenn Orchester oder Ensembles sie brauchen. Sie ist eine der | |
wenigen Interpretinnen, die auf dem alten Instrument [3][Neue Musik] | |
spielen. | |
Das Cimbalon: Im Mittelalter hieß das Instrument Psalter. Im persischen und | |
arabischen Raum heißt es Santur, Hackbrett und Zither sind verwandte | |
Instrumente. „Ein Instrument Hackbrett zu nennen, widerstrebt mir“, sagt | |
Ginzery. Anders als in Westeuropa sei das Cimbalon in Osteuropa nie | |
vergessen worden und hat in der traditionellen Musik überlebt. Die Saiten | |
des Cimbalons werden nicht wie bei der Zither gezupft, sondern mit | |
Schlegeln angeschlagen. Für alte Musik, die Enikö Ginzery auch spielt, mag | |
sie die Lederschlegel am liebsten, „weil sie für einen präzisen, | |
archaischen Klang sorgen“. Dass sie das Instrument spielt, hat mit ihrem | |
Großvater zu tun. | |
Der Großvater: Ihre Eltern sind keine Musiker. Ihr Großvater war aber ein | |
den Künsten nahe stehender Mann. „Ein Jurist, ein Musiker, ein feiner, | |
talentierter Mensch.“ Enikö Ginzery hat ihn nie kennengelernt. Er wurde | |
nach dem Zweiten Weltkrieg in einen stalinistischen Gulag deportiert. „Nach | |
zwei Wochen war er tot.“ | |
Die Familie schaffte es zwar noch, ihn krank zurück nach Bratislava zu | |
holen, aber er starb an Lungenentzündung. Er hinterließ ein Cimbalon und | |
eine Zither. Eines Tages sagte der Vater zu Enikö Ginzery, seinem einzigen | |
Kind, sie solle Cimbalon lernen. Da war sie ungefähr elf. Man hätte das | |
Instrument jetzt all die Jahre und all die Umzüge mitgeschleppt, sagte der | |
Vater. Er hatte seiner Tochter sogar schon eine Lehrerin besorgt. Sie war | |
von der Idee damals nicht begeistert. | |
Violine: Seit sie sieben Jahre alt war, hatte Ginzery Geigenunterricht. | |
„Ich wollte kein traditionelles Instrument dazu lernen. Ich spielte doch | |
schon Vivaldi auf der Geige.“ Dennoch ist sie zur Cimbalonstunde gegangen. | |
„Und gleich beim ersten Mal durfte ich improvisieren. Das hat mir | |
gefallen.“ Irgendwann habe die Lehrerin gesagt: „Weißt du, Geige spielen | |
viele, mit dem Cimbalon hat man mehr Chancen.“ | |
Sich heimatlos fühlen: Ginzery hat später in Budapest Cimbalon studiert und | |
in Musiktheorie promoviert. Fremd fühle sich die ungarische Hauptstadt für | |
sie nicht an. „Vertraut auch nicht wirklich.“ Sie spricht die Sprache, | |
Ungarisch, „es ist meine Muttersprache“, aber, sagt sie, „dort ist nicht | |
meine Heimat“. Ginzery ist eine Ungarin aus der Slowakei, wie etwa 600.000 | |
der sechs Millionen Einwohner und Einwohnerinnen des Landes. | |
Laut Pass ist ihre Nationalität Ungarisch, ihre Staatsangehörigkeit | |
Slowakisch. Allerdings fühle sich die Slowakei für sie auch nicht wie | |
Heimat an. „Sie können ahnen, warum nicht.“ In den 90er Jahren sei die | |
Situation für Ungarn in der Slowakei nicht einfach gewesen. Das habe tiefe | |
Spuren hinterlassen. Sie habe in Bratislava auch jetzt noch miserable | |
Sachen erlebt. „Ich bin eigentlich heimatlos.“ | |
Saarbrücken: Im Jahr 2002 geht Enikö Ginzery nach Saarbrücken. „Ohne ein | |
Wort Deutsch“, erzählt sie. In Saarbrücken kann sie Neue Musik im | |
Aufbaustudium als Hauptfach studieren. „In Osteuropa ist man doch lange | |
abgeschnitten gewesen von der Neuen Musik.“ Dabei werde in der | |
zeitgenössischen Musik das Cimbalon wieder verstärkt eingesetzt. Strawinsky | |
habe es neu entdeckt, „in einer Kneipe“. Ginzery, die seit 2006 als | |
freischaffende Cimbalonspielerin in Berlin lebt, hat über 50 Stücke von | |
zeitgenössischen Komponisten und Komponistinnen uraufgeführt. Mit Globokar, | |
Pedro Oliveira, Hespos, Kurtág und Iranyi arbeitet oder arbeitete sie | |
zusammen. | |
Shutdown: Komponisten hätten es leichter, jetzt, wo wegen der Coronakrise | |
das öffentliche Leben nicht stattfindet. „Ich bekomme jeden Tag eine Mail | |
von Oliveira, er nutzt die Zeit zum Komponieren.“ Sie dagegen, als | |
Interpretin, sei wie rausgekickt: „Für mich ist die Einsamkeit das | |
Allerschlimmste: keine Proben, kein Besuch, keine Kollegen, nur abgesagte | |
Konzerte.“ Sie habe für Konzerte, die jetzt im April stattfinden sollten, | |
seit Dezember geübt. „Die Arbeit von einem Vierteljahr, alles weg.“ | |
Aus der Zeit gefallen: Seit dieser Coronasache käme sie gar nicht in der | |
Gegenwart an, denn die Gegenwart, auf die sie in der Vergangenheit | |
hingearbeitet habe, gebe es nicht. „Ich lebe noch in der Vergangenheit und | |
dann auch in der Zukunft.“ Sie probe jeden Tag für etwas, das irgendwann | |
stattfinden soll. Angst vor der Krankheit hat sie keine. Sie ernähre sich | |
gesund. | |
In ihrer Küche steht ein Arsenal an Vitaminen und Kräutern fürs | |
Immunsystem. Eine ihrer Cousinen sei Bürgermeisterin in einem slowakischen | |
Dorf. „Alle müssen dort so einen Mundschutz tragen.“ Ihre Cousine hätte es | |
den Leuten auf dem Dorf erklären müssen und sie hätten es verstanden. „Aber | |
man kann das trotzdem fast nicht fassen, was passiert.“ Sie hofft auf ein | |
Ende, denn lange kann sie nicht durchhalten ohne Gagen. | |
Zweifel: Manchmal fragt sie sich, ob sie nicht etwas anderes hätte machen | |
sollen. Pädagogin vielleicht. Professorin werden an einer Musikhochschule | |
allerdings kann sie nicht, Cimbalon ist kein Studienfach in Deutschland. | |
Immerhin an zwei Berliner Musikschulen unterrichtet sie. Nur sind die | |
gerade zu. Projekte mit Flüchtlingskindern hat sie auch gemacht. Viele | |
Kinder aus Syrien kennen das Instrument aus ihrer Heimat. „Ich habe das | |
geliebt, diese Arbeit mit den Kindern.“ Singend und tanzend hätten sie die | |
Sprache schneller gelernt. Aber solche Kurse gibt es auch nicht mehr. | |
Wovon leben? Zwar hat Ginzery, weil sie wie viele Künstler und | |
Künstlerinnen nicht weiß, wie sie sich wegen Corona nun über Wasser halten | |
soll, eine Soforthilfe bekommen. Neuerdings aber heißt es, die sei nur für | |
Betriebsausgaben, und wenn sie das nicht nachweisen könne, müsse sie sie | |
zurückzahlen. „Wie stellen die sich das vor? Wovon soll ich die Miete | |
bezahlen? Dann sollen sie es nicht Soforthilfe nennen“, sagt sie. Sie soll | |
stattdessen Hartz IV beantragen. „Das musste ich noch nie.“ | |
Sie hat Angst, dass ihr ihr weniges Erspartes genommen wird. Sie braucht es | |
für ein Instrument, ein leichteres, das sie schon bestellt hat. Und das | |
Auto braucht sie auch. „Die Instrumente sind schwer, ich kann sie nicht | |
mitnehmen im Zug.“ | |
Innen und außen: Es gebe so etwas wie ein Innenleben und ein Außenleben, | |
sagt sie. Das Innenleben, das ist, wo alles sich staut. Und das Außenleben? | |
„Das ist, wo es Raum gibt, wo es Musik gibt, wo es Applaus gibt.“ Dann | |
setzt sie sich wieder an das Cimbalon. „Der Klang des Instruments ist | |
tragisch-melancholisch wie mein Leben“, sagt sie. | |
18 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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