| # taz.de -- Der Hausbesuch: Als hätte sie Bärenkräfte | |
| > Giuliana Giorgi mischt sich politisch ein, in Italien, in Wiesbaden, in | |
| > Berlin. Vor einem halben Jahr ist sie in ein brandenburgisches Dorf | |
| > gezogen. | |
| Bild: Giuliana Giorgi in ihrem Brandenburger Haus und vor ihrem italienischen (… | |
| Jemanden zu Hause zu besuchen, ist coronabedingt schwierig. Deshalb findet | |
| dieser Hausbesuch bei der Übersetzerin Guiliana Giorgi, frisch gekürte | |
| Ortsvorsteherin von [1][Chossewitz] in Brandenburg, größtenteils im Freien | |
| statt. | |
| Drinnen: Das Bauernhaus ist schon zur Hälfte renoviert mit Lehmwänden in | |
| sanften Tönen, perfekt gefliesten Bädern und warmen Holzböden. Die | |
| Einbauküche im Neobarock wurde von der Vorbewohnerin übernommen. Dazu eine | |
| „Kochmaschine“ aus dem 19. Jahrhundert, die nun zum Heizen des Raumes | |
| dient. Auf einem Katzenbaum schlafen zwei Geschwisterkatzen, eine dritte | |
| streift Giuliana Giorgi um die Beine. Die rührt in einer Gemüsepfanne: | |
| „Seit ich hier wohne, koche ich täglich. Die Leute, die mir beim Renovieren | |
| helfen, erwarten das von mir.“ | |
| Draußen: Hinter dem Haus liegt ein Garten mit terrassenförmig angelegten | |
| Gemüsebeeten. Sie sind dick mit Stroh bedeckt, das Giorgi in der Scheune | |
| vorgefunden hatte. Sie ist stolz auf die lange Natursteinmauer der | |
| Stallgebäude, die sie fachmännisch hat restaurieren lassen. Vorher war | |
| diese so schief; jeden Augenblick hätte sie zusammenfallen können. | |
| Dorfvorsteherin: Giorgi ist erst vor einem halben Jahr ganz nach Chossewitz | |
| gezogen, und schon wurde sie zur Ortsvorsteherin gekürt. Sie winkt ab, das | |
| bedeute vor allem: Wasseruhren abzulesen, Schlüssel vom Feuerwehrhaus zu | |
| verwalten, Senioren zu runden Geburtstagen zu gratulieren. Im Rahmen der | |
| Brandenburger Kreisreformen wurde den Dörfern ihre Selbstständigkeit | |
| genommen, aus Bürgermeistern wurden Ortsvorsteher. Sie können im | |
| Bauausschuss des Kreises nur noch beobachten, was betreffs des | |
| Flächennutzungsplans für ihre Gemeinde überlegt wird. | |
| Der See: Erst mal versucht Giorgi aber, einen E-Mail-Verteiler anzulegen, | |
| das braucht so seine Zeit. Als nächstes geht es darum zu verhindern, dass | |
| der Badesee umkippt. Er leidet wie die meisten Brandenburger Seen an der | |
| Trockenheit und daran, dass zu viel Dünger auf die Felder gekippt wird. | |
| Sich kümmern: Beim Spaziergang um den See bückt Giuliana Giorgi sich hin | |
| und wieder, hebt Plastik auf, steckt es in eine Tüte, um es später in den | |
| Müllcontainer zu werfen. „Ich bin nicht die Einzige, die das macht.“ Vor | |
| drei Jahren hat sie sich in dem 100-Einwohner-Dorf ein altes Bauernhaus | |
| gekauft. Es liegt in einem Naturpark, so sollte – hofft sie – der Garten | |
| vor den in der Großlandwirtschaft eingesetzten Pestiziden geschützt sein. | |
| Stadtleben: Giorgi hat zuletzt in Berlin gewohnt. Davor in Wiesbaden und | |
| Mailand. Sie hielt sich für eine Städterin. Dass ihr das Landleben auch | |
| zusagt, merkte sie, als sie sich außerhalb Berlins einen Kleingarten | |
| zulegte. Es war, als übe sie, wie herrlich es sein kann, ganze Tage draußen | |
| zu verbringen. Außerdem erinnerte es sie daran, wie es früher im Landhaus | |
| ihrer Großmutter am Fuß der Alpen, weit weg vom geschäftigen Mailand war. | |
| Eigenarbeit: Den Kleingarten hat sie aufgegeben, nachdem sie sich für | |
| Chossewitz entschied und zur Gartenarbeit noch das Do-it-yourself-Verfahren | |
| im Renovieren hinzukam. Ohne Freunde, die beim DIY helfen, ginge es | |
| allerdings nicht voran. Einen hat sie sogar angestellt. Für manches holt | |
| sie sich zudem Fachbetriebe. Doch es bleibt genug zum Selbermachen, vom | |
| Verputzen der Wände mit Lehm bis hin zum Dämmen des Dachs mit Hanfwolle. | |
| Das Dorf: Chossewitz liegt im hügeligen Schlaubetal. Am Flüsschen Oese | |
| reiht sich eine Mühle an die nächste. Ehedem unterstützten die Wassermühlen | |
| eine Schmiede bei der Sensenklingen-Herstellung. Heute sind im Dorf keine | |
| Läden, kein Schmied, keine Kneipe mehr. Nur die kleine Kirche ist frisch | |
| renoviert. In der ehemaligen Jugendherberge ist eine Pension. | |
| Landwirtschaft gibt es nur noch wenig: einige Kühe, Schafe, auch Hühner. | |
| Dorfleben: Dorffeste allerdings finden wieder statt. Und zwar im zum | |
| Gemeinschaftshaus umgebauten ehemaligen HO-Laden, das waren die | |
| Standardläden in der DDR. Hier gibt es, dank des Einsatzes einiger | |
| historisch interessierter Dorfbewohnerinnen auch eine Heimatstube. Viele | |
| der Chossewitzer sind älter, haben Zeit. Die Jüngeren arbeiten in den | |
| Städten der Umgebung, von Eisenhüttenstadt, über Beeskow bis nach Berlin. | |
| Auch Giorgi fährt mitunter nach Berlin, wenn sie für Aufträge in ihrem | |
| Brotberuf als Übersetzerin und Dolmetscherin gebraucht wird. | |
| Herkunft: Aufgewachsen ist Giuliana Giorgi in Mailand. Eigentlich will sie | |
| Biologie studieren, aber dann wird es doch Politologie. Sozialkritisches, | |
| Kapitalismuskritisches interessiert sie. Über eine Gruppe, die sich als | |
| europäische Arbeiterpartei verstand, verschlägt es sie Anfang der 1970er | |
| Jahre in die Bundesrepublik. Sie wohnt mit ihren Genossen in einer WG in | |
| Wiesbaden. Nachdem sie einen Job als Fremdsprachensekretärin bekommt, zieht | |
| sie da aus. | |
| Körperarbeit: „Suchst du nach einem Schatz?“, fragte ein Chossewitzer | |
| einmal, als er sah, wie sie beim Umpflanzen der Bäume ein Loch grub. Die | |
| Energie der Neuen beeindruckte ihre Mitmenschen. Als hätte sie Bärenkräfte | |
| und wäre mit schwerer Gartenarbeit aufgewachsen. In der Innenstadt von | |
| Mailand gab es keine Gärten, „aber“, verrät sie, „schwere körperliche | |
| Arbeit lernte ich kennen, als ich meinen ersten Job damals in Wiesbaden | |
| wieder verlor“. Danach nämlich findet sie einen Job in einer Reitschule: | |
| „Tägliches Ausmisten war die Hauptarbeit.“ | |
| Umsatteln: Die Eltern, beide Chemiker, sind entsetzt, als sie erfahren, | |
| dass ihre Tochter nun Ställe ausmistet. Das ist mit ein Grund, warum | |
| Giuliana Giorgi nach Mailand zurückzieht, dort noch eine Ausbildung als | |
| Übersetzerin macht und sich als Gerichtsdolmetscherin vereidigen lässt. | |
| Danach geht sie wieder nach Wiesbaden und macht sich dort selbstständig. | |
| Berufung: Ihr Beruf begeistert sie zunehmend, auch die Bezahlung. „Es wurde | |
| anerkannt, dass ich die Dialekte Italiens so gut auseinanderhalten konnte.“ | |
| Aber ihre Übersetzungstätigkeit ist nicht ohne, manchmal sogar gefährlich. | |
| „Was machst du hier eigentlich?“, fragte sie sich, als man sie im Rahmen | |
| von Ermittlungen gegen die Mafia nach Sizilien mitnahm, damit sie vor Ort | |
| übersetzte. | |
| Hobby: Allerdings verdient sie in der Zeit gut und kauft sich ein Pferd; | |
| ein Foto zeigt sie mit einer weißen Stute. Nach der Arbeit galt es nun zu | |
| füttern, zu striegeln, auszumisten, auszureiten – dreieinhalb Stunden, und | |
| das jeden Tag. Wie eine Beziehung sei das gewesen, sie hatte sich | |
| vorgenommen, „nicht noch einmal ihre Freiheit an einen Liebhaber zu | |
| verlieren“. | |
| Politisches Engagement: Das Pferd kriegt dann doch Konkurrenz: In der Zeit | |
| nämlich stößt sie auch auf die Sommeruniversitäten der | |
| globalisierungskritischen Organisation Attac. Deren Gruppe für solidarische | |
| Ökonomie begeistert sie. Sie erfährt, dass in Italien ein sogenanntes | |
| [2][Marcoragesetz] aus den 1980er Jahren ermöglichte, dass von der | |
| Schließung bedrohte Unternehmen von ihrer Belegschaft übernommen werden | |
| können, und zwar mit ihrem Arbeitsamtsgeld, das sie dafür verwenden dürfen. | |
| Eine Pappkartonfabrik in Bergamo oder eine kleine Werft in Venedig wurden | |
| so gerettet. Sie verkauft ihr Pferd, organisiert eine Exkursion dahin. | |
| Berlin: Weil ihr die politische Szene in Berlin vielfältiger erscheint als | |
| in Wiesbaden, zieht sie im Jahr 2010 in die Hauptstadt, stellt einen | |
| Kongress zu solidarischer Ökonomie auf die Beine und befördert, dass fortan | |
| Direktverkaufswege zwischen landwirtschaftlichen Betrieben in Südeuropa und | |
| Berlin aufgebaut werden. Obst von sizilianischen Genossenschaften, Olivenöl | |
| aus Griechenland. Bestellt wird bei den Genossenschaften, die fahren die | |
| Nahrungsmittel nach Berlin. Hier werden die Waren von Ehrenamtlichen | |
| verteilt. Das funktioniert mittlerweile ohne sie. | |
| Und nun also das Land: Als sie vor einem halben Jahr endgültig aufs Dorf | |
| zog, brachten Nachbarn ihr Brot und Salz und gewannen sie für die dörfliche | |
| „Weibersport-Gruppe“. Giuliana Giorgi ist gespannt, was noch kommt. | |
| 17 May 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Chossewitz | |
| [2] http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/08/08/genossenschaftencooperativa_… | |
| ## AUTOREN | |
| Elisabeth Meyer-Renschhausen | |
| ## TAGS | |
| Der Hausbesuch | |
| Brandenburg | |
| Kapitalismuskritik | |
| Zivilgesellschaft | |
| ZDFneo | |
| Der Hausbesuch | |
| Der Hausbesuch | |
| Der Hausbesuch | |
| Musik | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Youtuber Fynn Kliemann über Erfolg: „Ich glaub, ich kann alles“ | |
| Fynn Kliemann wurde als „Heimwerkerkönig“ auf Youtube bekannt. Heute ist er | |
| ein erfolgreicher Unternehmer. Andere hätten einfach zu viel Angst. | |
| Der Hausbesuch: Was den Hof bewegt | |
| Antonia Ley und Simon Arbach sind Teil eines Hofprojekts in Neu-Eichenberg | |
| in Hessen, das eine solidarische Landwirtschaft betreibt. | |
| Der Hausbesuch: Alles außer bleiben | |
| Seit über vier Jahren ist Sebbe unterwegs. Als Eremit wandert er durch | |
| Europa und wohnt überwiegend im Wald. Wie lebt es sich so? | |
| Der Hausbesuch: Ein Gallierdorf in Lichtenberg | |
| Ihr Wohnprojekt „Wartenburg“ haben Ruwen Warnke und Carsten Riechelmann mit | |
| vielen anderen zusammen selbst aufgebaut. Doch es ist in Gefahr. | |
| Der Hausbesuch: Aus der Zeit gefallen | |
| Enikö Ginzery spielt Neue Musik auf einem alten Instrument, dem Cimbalon. | |
| Als freischaffende Künstlerin hat sie es in der Corona-Krise schwer. |