| # taz.de -- Der Hausbesuch: Ein Gallierdorf in Lichtenberg | |
| > Ihr Wohnprojekt „Wartenburg“ haben Ruwen Warnke und Carsten Riechelmann | |
| > mit vielen anderen zusammen selbst aufgebaut. Doch es ist in Gefahr. | |
| Bild: Marke Eigenbau: Ruwen Warnke (links) und Carsten Riechelmann in ihrem Woh… | |
| Ein leerstehendes Haus im Osten Berlins, drumherum Handwerksbetriebe. Junge | |
| Leute kauften das Gebäude und retteten es vor dem Verfall. Der Bezirk will | |
| aber keine Wohnbebauung in diesem Gebiet. Seither wird gleichzeitig gebaut | |
| und prozessiert. Den letzten Prozess haben die Bewohner verloren, wegen der | |
| Coronakrise können sie dennoch bleiben. Derzeit wird niemand geräumt. | |
| Draußen: Alle paar Minuten rattert die Ringbahn am Wohnhaus in der | |
| Wartenbergstraße vorbei. Das fünfstöckige Gebäude in Berlin-Lichtenberg ist | |
| von drei Seiten von Bahntrassen umgeben. Darum nennen manche das Gebiet das | |
| Bermudadreieck. Einige nennen es auch Gallierdorf. Denn die knapp 60 | |
| Menschen, die dort im Gebiet verteilt wohnen, tun das aus Sicht der | |
| Stadtverwaltung illegal. Die Gallier sehen das freilich vollkommen anders. | |
| Die „Wartenburg“ ist das größte Wohnhaus in der Gegend, vom Balkon auf dem | |
| fünften Stock hat man eine wunderschöne Aussicht auf den Fernsehturm. | |
| Drinnen: Zu Besuch vor Corona. Drinnen wird geschuftet und gelärmt. Zwei | |
| Portugiesen zementieren eine Kellerebene, wo ein Bandproberaum entstehen | |
| soll. Im Hauseingang und im Hinterhof türmen sich die Zementsäcke und | |
| Werkzeuge, ein Betonmischer rotiert. Die Wohnung von Ruwen Warnke liegt im | |
| dritten Stock. Schwarzer Dielenboden, eine offene Küche, ein eingebauter | |
| Holzpavillon im Wohnzimmer und ein mit orientalischen Kacheln verziertes | |
| Bad – in der Berliner City wäre so etwas unbezahlbar. | |
| Die HausbewohnerInnen: Ruwen Warnke arbeitet in der Musikindustrie und | |
| schwärmt vom gemeinsamen Hausprojekt. Zusammen mit Carsten Riechelmann, | |
| einem Bioingenieur, gehört er zu den Besitzern des Hauses. 17 oder 18 | |
| Menschen wohnen zur Zeit darin. Ganz genau weiß das keiner. | |
| Wer wie dazu kam: „Wir haben uns alle über Ecken kennengelernt“, sagt | |
| Warnke. Gemeinsam hätten sie die Idee gehabt, ein Haus in der Stadt zu | |
| besitzen, wo man günstig wohnen, bauen und kreativ sein kann. Neben den | |
| sechs Besitzern, die mit ihren Partnerinnen und Partnern im Haus wohnen, | |
| gibt es noch die Mieter, die nicht mehr als 250 Euro Miete zahlen, Strom | |
| und Internet inklusive. „Und wer nicht viel Kohle hat, der packt halt etwas | |
| mehr mit an“, sagt Warnke. Die Bewohner kommen aus aller Welt und haben | |
| unterschiedliche Berufe: von der Fernsehproduzentin über die Künstlerin bis | |
| zur Goldschmiedin. | |
| Learning by doing: An der Renovierung haben alle mitgewirkt. Das Haus sei | |
| keine Ruine gewesen, als sie es vor drei Jahren vom damals 83-jährigen | |
| Besitzer zum Schnäppchenpreis ergatterten, sagt Riechelmann. Aber außer dem | |
| Rohbau sei nicht mehr viel vorhanden gewesen. Neben den Bewohnern halfen an | |
| die 90 Leute beim Ausbau mit. | |
| Der Ausbau: Im Hauruckverfahren seien Dielen geschliffen, Wände verputzt, | |
| Stromkabel verlegt, die Wasserleitung installiert, das Dach gedeckt, das | |
| Heizungssystem erneuert, Bäder und Küchen renoviert, das Treppenhaus | |
| befestigt, die Fenster ersetzt und die Decken ausgebessert worden. Alles | |
| autodidaktisch. „Nur zwei Tischler standen uns zur Seite“, sagt | |
| Riechelmann. Die wohnen mit im Haus. | |
| Für sich sein: Zwischen denen, die das Haus besitzen, und denen, die es | |
| bewohnen, wird kein großer Unterschied gemacht. Das Haus soll allen | |
| gehören. Als irgendwas zwischen Hausgemeinschaft und Kommune könne man ihre | |
| Wohnform bezeichnen, sagt Warnke. „Aber“, und darauf legt er Wert, „jeder | |
| hat seinen eigenen Space.“ | |
| Mit den anderen sein: Viele Räume werden allerdings auch geteilt: „Der | |
| Garten, die Werkstatt, die Kellerräume, das Dachgeschoss und die | |
| Gemeinschaftsräume sind für alle“, sagt Riechelmann. Im Plenum berät man | |
| über Reparaturen oder Anschaffungen. Auch wenn nicht alle Entscheidungen | |
| unisono getroffen werden, gerade was das Finanzielle betrifft, die Türen | |
| stehen immer offen. Und dann sei da noch der Pasta Tuesday, an dem immer | |
| ein Stockwerk die anderen zum Essen einlädt. „Wir planen auch eine | |
| deutsch-arabische Kulturreihe und regelmäßige Wohnzimmerkonzerte“, sagt | |
| Riechelmann. Wegen Corona geht das aber gerade nicht. Jetzt machen sie eben | |
| Nachbarschaftshilfe. | |
| Orga und Bürokratie: So ein Haus zu renovieren, brauche großes | |
| Organisationstalent. Damit hat Warnke Erfahrung. „Ich habe während meines | |
| BWL-Studiums mit organischen Düngemitteln aus Ägypten gehandelt“, sagt er. | |
| Und später hätte er dann mit Freunden in Berlin eine professionelle | |
| Partyreihe aufgezogen. Ein Netzwerker. | |
| Die Hausgeschichte: Das Haus selbst ist vermutlich 1893 erbaut worden. | |
| Unten war mal ein Kolonialwarengeschäft, das ist alles, was die Bewohner | |
| über seine Vorkriegsgeschichte in Erfahrung bringen konnten. Der vorherige | |
| Besitzer habe das Gebäude nie aufgegeben, betont Warnke, aber auch nichts | |
| investiert. Das läge an Plänen des Bundes, im Gebiet eine Abfahrt der | |
| Ringautobahn zu bauen, die noch immer nicht ganz vom Tisch sind. | |
| Der Konflikt: Rund um das Haus hat sich nach und nach Gewerbe angesiedelt, | |
| de facto ist das Gallierdorf ein Mischgebiet. „Die Stadt versucht es aber | |
| zum Gewerbegebiet zu erklären und will uns fortjagen“, sagt Warnke. Die | |
| Wartenburg hat aus Sicht der Stadt ihren Bestandsschutz verloren, was | |
| bedeuten würde, dass ihre Bewohner keine Baugenehmigung hätten. Die sehen | |
| die Sache anders: Das zuständige Bauamt brannte 1945 ab, und damit, so die | |
| Wartenritter, auch die Baugenehmigung für das Haus. Dadurch bräuchten sie | |
| keine neue Baugenehmigung, die alte hätte ihre Gültigkeit nie verloren. | |
| Zwei Mal bestätigten Gerichte diese Argumentation, einen dritten Prozess | |
| verloren sie. | |
| Hoch lebe Gallien: Als Gallier seien sie geeint im Widerstand. Mischgebiet | |
| oder Gewerbe? „Ist doch einerlei“, sagt Riechelmann. Zu den Nachbarn | |
| herrsche ein ausgesprochen gutes Verhältnis, man kenne sich, man halte | |
| zusammen und lasse sich nicht klein kriegen. Drüben stehen zwei | |
| Techno-Clubs, da hinten eine Lackiererei, gleich nebenan die Gerüstbau | |
| Systemfeind GmbH. Und auch der Krach der Tischlereien und Kfz-Werkstätten | |
| störe sie keineswegs. „Krach machen wir ja selbst den ganzen Tag“, sagt | |
| Warnke. | |
| Bauprojekt um Bauprojekt: Die Bewohner und Bewohnerinnen der Wartenburg | |
| wollen nicht nur bleiben, sie haben auch noch viel vor. Vor Kurzem erst | |
| haben sie das leer stehende Nachbargrundstück dazu gemietet und zwei | |
| Container hingestellt. Der Plan: noch mehr Lager- und Proberäume. Und | |
| mittenrein einen Pizzaofen bauen. Außerdem wollen sie das Haus | |
| klimafreundlicher gestalten und überlegen, die Südfassade zu begrünen. | |
| Die Zukunft: Anfang November bekamen Carsten Riechelmann und seine Freundin | |
| Julia Rau ihre erste Tochter, Cléo. Das Baby ist im Haus geboren. Für alle | |
| war das ein symbolischer Moment. Lange stand das Haus leer und nun wird | |
| darin geliebt, gearbeitet, gegessen, getanzt. „Cléo wird nicht das letzte | |
| Kind sein, das hier geboren wird“, sagt Riechelmann. Das ist jetzt ihr | |
| Haus. | |
| 26 Apr 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Boris Messing | |
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