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# taz.de -- Foto-Festival in Worpswede wird virtuell: Wenn Realitäten sich än…
> Das Fotofestival „RAW“ in Worpswede ist ins Internet umgezogen. Jetzt
> kann es jünger werden – und über die Künstlerkolonie hinausstrahlen.
Bild: Die Reihe „Glaube.Sitte.Heimat“ zeigt leere Schützenhallen, die zu B…
Bremen taz | Festivalchef [1][Jürgen Strasser] klingt ein bisschen wie ein
Trauerredner, wenn er zur Eröffnung sagt: „Unser Motto ‚Changing Realities…
ist zum Programm geworden.“ Aber das täuscht. Es ist im Grunde nur die
völlige Erschöpfung, die aus ihm spricht. Angesichts der grassierenden
Corona-Pandemie hatten er und sein kleines Team ja nur ein paar Tage Zeit,
um die große „Phototriennale“ im beschaulichen Worpswede komplett ins
Internet zu verlegen.
„Wir haben rund um die Uhr gearbeitet, um alles virtuell erlebbar zu
machen“, sagt Strasser. In diesem Jahr findet das 2016 begründete Festival
zum dritten Mal statt. Und erstmals sollten alle vier Häuser des Worpsweder
Museumsverbundes miteinbezogen werden: Der Barkenhoff, die Große
Kunstschau, das Haus im Schluh, die Worpsweder Kunsthalle und mehrere
örtliche Galerien zeigen Werke 40 internationaler FotografInnen.
Eigentlich. Denn natürlich sind auch all diese Museen nun bis auf Weiteres
zu. Aber einfach überall ein Schild hinzuhängen: „Geschlossen wegen Corona�…
– das sei eben auch keine Alternative gewesen, sagt Strasser. Also werden
die fertig aufgebauten Ausstellungen nun Schritt für Schritt auf Instagram
und Youtube zu sehen sein, jeden Tag ein bisschen mehr. „RAW frei Haus“
nennt sich das neue Format, nun zu sehen auf [2][www.raw-frei-haus.com].
Neben den Rundgängen sollen auch die geplanten Künstlergespräche nun online
stattfinden.
Schon die Vernissage des Festivals lief bei Youtube, ein Cellist der Bremer
Kammerphilharmonie improvisierte zu Fotos, nur die fein gewandeten
BesucherInnen mit Häppchen und Weingläsern in der Hand waren nicht da.
## Fotografie wurde hier „nie gewürdigt“
Der klassische Worpswede-Gast fehlt dem Festival und seinen sieben
Ausstellungen nun erst einmal. Andererseits kommt der üblicherweise auch
nicht der Fotografie, sondern der Ölmalerei wegen. Er will Werke von Paula
Modersohn-Becker und Heinrich Vogeler sehen, solche von Otto Modersohn oder
Fritz Mackensen. All jenen, meist großstädtischen KünstlerInnen eben, die
im ausgehenden 19. Jahrhundert die Idylle des Teufelsmoores entdeckten, ein
bis dato unbekanntes Dorf im Landkreis Osterholz, nordöstlich von Bremen
gelegen.
Bis heute zehrt es davon, vor allem touristisch, und trägt ebenso
selbstverständlich wie stolz den Beinamen „Künstlerdorf“. Und obwohl die
Fotografie schon alt ist wie jene „Künstlerkolonie“, wurde sie ebenda „n…
wirklich gewürdigt“, sagt Strasser. Seit vier Jahren versucht er tapfer,
das zu ändern. Letztes Jahr kamen 10.000 Leute in vier Wochen – dieses Jahr
sollten es bis zum 7. Juni gute 20.000 werden. Eigentlich. Nun sei das
Festival aber auch für „deutlich jüngeres Publikum“ attraktiv, glaubt
Strasser, und für jene, die eine gewisse Schwellenangst gegenüber
bildungsbürgerlichen Kunstmuseen hindert, sie selbst mal aufzusuchen.
Jede der künstlerisch äußerst verschiedenen und inhaltlich breit
gefächerten Ausstellungen des RAW-Festivals hat einen anderen Fokus, die
Palette reicht von „Mensch“ über „Landschaft“ bis hin zu „Zeitenwend…
und soll zugleich einen Bogen zu dem jeweiligen Ort schlagen, an dem sie
stattfindet. In dem einstigen Wohn- und Atelierhaus des Malers, Grafikers
und Architekten Heinrich Vogeler beispielsweise, dem als Zentrum der
Künstlerkolonie und „Gesamtkunstwerk des Jugendstils“ gefeierten
Barkenhoff, liegt der Fokus auf dem zwiespältigen Begriff „Heimat“.
[3][Lia Darjes] arrangiert dort nach dem Vorbild holländischer Meister die
Angebote alter Menschen aus dem russischen Kaliningrad, die mit dem Verkauf
von selbst angebautem Obst und Gemüse ihre kärglichen Renten aufzubessern
suchen. Darjes fotografierte ihre Marktstände 2016 direkt am Straßenrand –
dennoch erzählen die Fotos höchstens in Andeutungen von den sozialen
Problemen. Ihre museal-weltentfremdeten, aber handwerklich eindrucksvollen
Stillleben wirken so künstlich arrangiert wie deren Referenzen eben auch.
Nebenan dokumentiert [4][Martin Rosswog] in einer Art ethnografischer
Feldforschung die untergehende Lebenswelt der Siebenbürger Sachsen in
Rumänien – eine Fotoserie, die allerdings bereits vor knapp 20 Jahren
entstand. Und [5][Marvin Systermans]’ Serie „Glaube. Sitte. Heimat“
versucht, am Beispiel der südwestfälischen Stadt Arnsberg den viel
zitierten „Strukturwandel“ zu illustrieren und sich an Begriffen wie
„Modernität“ und „Tradition“ abzuarbeiten. Aber weniger, um sie mit Le…
zu füllen. Hier wird in streng durchkomponierten Fotos in klinisch reinen
Farben und mit großer Schärfe die Faszination völlig intakter, allerdings
menschenleerer Kegelbahnen oder verwaister Schützenhallen gefeiert, in
denen nun Segelboote oder Wohnwagen unterstehen.
All dies kann man heutzutage in Fotostrecken, Videos und Rundgängen mit
360-Grad-Blick quasi verlustfrei auch im Netz zeigen, auch wenn Strasser
natürlich auf das „haptische Erlebnis“ beharrt. Der erhoffte Synergieeffekt
aus zeitgenössischer Fotografie und historischer Bildkunst geht natürlich
zunächst verloren. Andererseits besteht der Mehrwert dieses Festivals für
das Museumsdorf Worpswede aber vielleicht auch vor allem darin, es
überhaupt mit aktueller Fotokunst zu konfrontieren.
Doch „RAW“ ist ja nicht nur ein Ausstellungsevent, für das man sich nicht
bewerben kann, sondern zu dem man eingeladen werden muss. Und es ist auch
ein Ort des Austausches, an dem immer wieder Gespräche entwickelt, Kontakte
entstehen und gepflegt werden sollen. „Das kann ein virtueller Raum in
dieser Form nicht ersetzen“, sagt Strasser. Dennoch sei er „nicht traurig�…
dass sein Festival nun auf Bildschirme verbannt wurde. Der Festivalleiter
weigert sich, einfach in Resignation zu verfallen. „Das ist kein Unglück,
das über Worpswede hereingebrochen ist“.
Auch finanziell nicht: Das das Festival vorerst nur als „RAW frei Haus“
existiert, sei aus finanzieller Sicht „nicht ganz so dramatisch“, sagt
Strasser – „der Verlust an Einnahmen hält sich in Grenzen“. Aber natürl…
hoffen sie in Worpswede alle, dass die Fotos am Ende doch auch alle noch
ganz traditionell und offline zu sehen sein werden.
31 Mar 2020
## LINKS
[1] https://juergenstrasser.com/
[2] http://www.raw-frei-haus.com
[3] http://liadarjes.com/
[4] http://www.martin-rosswog.de/
[5] https://www.marvinsystermans.com/
## AUTOREN
Jan Zier
## TAGS
Festival
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