| # taz.de -- Dekolonisierung von Musik: Weg mit den pastoralen Idyllen | |
| > Während die Welt auf Pause gestellt ist, wacht der europäische | |
| > Musikdiskurs auf – und hinterfragt das eigene koloniale Erbe. | |
| Bild: Stellt auf dem Dice Festival ihre poetische Performance „Martyrium“ v… | |
| Das Leben ist derzeit wie ein JG Ballard-Roman. Es findet im Inneren statt | |
| im Äußeren statt. Das ist anstrengend, aber eine gute Voraussetzung für | |
| ausgiebiges Nachdenken. Nicht nur über das das Innen, also das Ich, sondern | |
| vor allem das Außen, also die Kräfte, die ständig auf es einwirken, | |
| auseinandernehmen oder gar kaputt machen. | |
| Oft ist nicht hilfreich, das Ich dann einfach wieder neu zusammensetzen im | |
| Geiste irgendeines Ordnungsideals. Es ist viel besser, den Defekt nicht zu | |
| verbergen. Bruchstellen können hilfreiche Mahnmale sein in einer Welt, in | |
| der Ordnungsliebe zu Machtmissbrauch, Pedanterie, oder Rassismus führt. | |
| Um derartiges geht es am Samstag beim Launch der neuen Ausgabe des Archive | |
| Book-Magazins „Beyond Repair“. In Sound- und Musikperformances, DJ-Sets und | |
| Lesungen von u.a. Natascha Sadr Haghighian, post-Duo und Chiara Figone | |
| werden die Überwindung des Reparations-Narrativs verhandelt, aber auch neue | |
| Formen der Sebstorganisation und des Widerstands. | |
| Verlernt und ganz neu gedacht werden muss dringend auch der Musik-Diskurs. | |
| Dass Musik im euro-amerikanischen Raum jahrelang unbeschwert als pastorale | |
| Idylle verkauft werden konnte, lag auch an der Kaschierung der kolonialen, | |
| [1][weißgewaschenen Strukturen], die allen Genres bis heute innewohnen. | |
| ## Wie klingt dekolonisierte Klassik? | |
| Dass Techno im Club derzeit weitgehend auf Pause gestellt ist, ist eine | |
| gute Möglichkeit, ihn als oft affektlose kommodofizierte Aneignung einer | |
| einst Schwarzen Musik zu entlarven. Wie sich [2][die eigenen Privilegien] | |
| und kulturellen Wurzeln hingegen respektvoll in Beziehung setzen lassen, | |
| zeigt etwa die Hamburger Musikerin Rosaceae aka Leyla Yenirce. Sie | |
| verschaltet harsche, elektroakustische Sounds mit Stimmen des politischen | |
| Widerstands und kurdischer Hochzeitsmusik. | |
| Sie wird auf dem Berliner Dice Festival neben Lotic spielen, deren atonale | |
| Breakbeats und dialektische Klangwelten emanzipatorisches Potential für | |
| marginalisierte und alle anderen Körper evozieren, die sich die Räume, zu | |
| denen sie passen, erst noch schaffen müssen. | |
| In perfekt passenden, also bruchstellenlosen Orte hat sich bis heute | |
| weitestehend auch die Klassische Musik eingerichtet. Themen wie kulturelle | |
| Aneignunsprozesse werden dort immer noch fast gar nicht verhandelt, obwohl | |
| sich bereits Komponisten wie Beethoven oder Debussy bei außereuropäischen | |
| Musiken bedienten. | |
| Wie eine zeitgemäße, dekolonisierte Klassik aussehen könnte, die | |
| transtradtionell denkt, wird am Sonntag beim Symposium „Decolonizing | |
| Classical Musics?“ diskutiert. Zu Gast sind etwa die stets multimedial | |
| arbeitende Komponistin Brigitta Muntendorf, der Komponist und | |
| Medienkünstler Sandeep Bhagwati und der Musikwissenschaftler Kofi Agawu. | |
| ## Neuverhandlung von Innen und Außen | |
| Wer danach noch Energie hat, kann am Nachmittag Uhr bei Savvyzaar | |
| einschalten, dem Radio des Kunstraums Savvy Contemporary, der übrigens eine | |
| sehr gute Adresse für einen nachhaltigen [3][Dekolonisierungs-Diskurs] ist. | |
| In der [4][Sendung „Sound as Divinity“] erzählt der mexikanische Komponist | |
| Luis Perez Ixoneztli von Musikinstrumenten, die in alten atztekischen | |
| Gräbern gefunden wurden und heutigen Musiker*innen neue musikalische | |
| Sprachen ermöglichen. | |
| Mit neuen Sounds arbeitet die Musikerin Lucrecia Dalt seit jeher. In ihren | |
| vertrackten Stücken, die synthetische Klänge mit der eigenen Stimme | |
| verweben, entstehen teils psychedelische, teils hyperrealistische Welten. | |
| [5][Beim Kiezsalon treffen] sie auf den ironischen Synthiepop der Musikerin | |
| Agata Melnikova aka Signal Libra die in ihren schrillen Videos die | |
| Musikinstrumente nie wirklich bedient, sondern immer nur streichelt. | |
| Intime Beziehungen zu ihren Tools pflegen auch John Chantler und Crys Cole. | |
| Sie performen jeweils solo im Neuköllner KM28 am Donnerstag im Neuköllner | |
| KM 28 performen. Während Chantler mit seinen Synthesizern und anderen | |
| Geräten unvorhergesehene Klänge erzeugt, entlockt Cole vermeintlichen | |
| Alltagsgegenständen außeralltägliche sonische Geschichten. | |
| Die derzeitige Chance, das Innen und Außen neu zu verhandeln, ist also | |
| längst nicht nur auf Menschen beschränkt. | |
| 23 Oct 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Politik-der-Hautfarbe/!5688126 | |
| [2] /Das-Konzept-der-Privilegien/!5706891 | |
| [3] /Humboldt-Forum-in-den-Startloechern/!5716960 | |
| [4] https://savvy-contemporary.com/en/events/2020/sound-as-divinity/ | |
| [5] http://www.kiezsalon.de/lucrecia-dalt-and-sign-libra/ | |
| ## AUTOREN | |
| Philipp Rhensius | |
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