# taz.de -- Journalist*innen mit Behinderung: Bürde oder Privileg | |
> Ein Mensch mit Behinderung ist für eine Redaktion mehr als das Gesicht | |
> der nächsten Diversity-Kampagne. Denn er oder sie sieht, was ihr nicht | |
> seht. | |
Bild: Expertin gibt Rat: bei einem Workshop zu diskriminierungsarmer Bildberich… | |
„Warum sollte ich Menschen mit Behinderung anfragen, wenn nicht aufgrund | |
ihrer Behinderung?“ Diese Frage stellte mir einmal eine Journalistin, als | |
es um die Suche nach Protagonist*innen ging. Die Frage offenbart, wie | |
[1][behinderte Menschen] gesehen werden: Vor allem als „die Behinderung“ | |
und nicht als Mensch. Das gilt auch für die Medienbranche. | |
Eine Behinderung wird von der Gesellschaft oft nur als medizinische | |
Diagnose wahrgenommen und nicht als das, was sie vordergründig ist: | |
behindert werden, zum Beispiel durch fehlende Audiosignale, Stufen oder | |
komplizierte Ausdrucksweisen. Dazu kommen diffuse Berührungsängste von | |
nichtbehinderten Menschen, die viele Prozesse und Entscheidungen lähmen. | |
Man wird ausgeschlossen, als sonderbar eingestuft oder als positive | |
Ausnahme. | |
Vor allem wird man in eine repräsentative Rolle gedrängt und vertritt immer | |
und überall eine ganze Gruppe; in Deutschland macht diese Gruppe 10 Prozent | |
der Bevölkerung aus. | |
Auch in Medienhäusern stehen die Chance gut, der oder die Einzige zu sein – | |
mit (sichtbarer) Behinderung. Das ist eine verdammt schwere Bürde, denn | |
davon, wie die Zusammenarbeit mit dieser einen Person läuft, hängt ab, ob | |
auch zukünftig Menschen mit Behinderung eine Stelle bekommen. Diesen Druck | |
spüren behinderte Menschen jeden Tag in ihrem Arbeitsleben. | |
## Ein Rucksack voll Verantwortung | |
Die repräsentative Rolle in der Redaktion kostet viel Kraft – „nebenbei“ | |
muss man mit journalistischen Höchstleistungen glänzen, das versteht sich | |
von selbst, sonst hat man den Weg für alle anderen verbaut. Die | |
aufgebürdete Verantwortung und das Kämpfen gegen Barrieren sind wie ein | |
schwerer Rucksack, den man ständig mit sich herumschleppt. Und obendrein | |
muss man so tun, als wäre er federleicht. | |
In den Redaktionen müssten deshalb viel mehr Menschen vertreten sein, die | |
einen anderen Blick auf die Dinge haben, etwa bei der Auswahl von Themen | |
und Protagonist*innen. Und die sensibel sind für klischeefreie Sprache und | |
Bildsprache. | |
Denn leider sind es sind immer noch die gleichen Phrasen, die im | |
Journalismus im Zusammenhang mit Behinderung vorkommen. Sie handeln von | |
Menschen, die an einer Behinderung „leiden“ oder es „trotz der Behinderun… | |
geschafft haben, dies oder jenes zu tun. Behinderte Menschen werden | |
dargestellt als Inspiration für die Nichtbehinderten – denn schließlich hat | |
„der Behinderte“ es ja auch geschafft. Es ist eine defizitorientierte | |
Sichtweise, in der ständig „Was kann dieser Mensch (noch)?“ gefragt wird. | |
Anstatt: „Was braucht er oder sie, um ein selbstbestimmtes Leben zu | |
führen?“ | |
Es muss jemanden in der Redaktion geben, der ebendiese Frage stellen kann. | |
Der die Nuancen versteht, der unterscheiden kann zwischen behinderten | |
Menschen und hilflosen Pflegefällen. Es muss jemanden in der Redaktion | |
geben, der behinderte Menschen nicht nur in die Bereiche „Soziales“ und | |
„Medizin“ verortet, der erkennt, dass sie Bürger*innen sind, die man zu | |
jeglichen Themen befragen könnte – weil sie Perspektiven liefern, die | |
anderen fehlt. | |
## Jedes Thema ist ein Thema „mit Behinderung“ | |
Dieser oder diese Jemand müsste im besten Fall eine Behinderung haben. | |
[2][Das Thema „auf dem Schirm haben“ ist gut, selbst damit zu leben, ist | |
besser]. Und eine solche Person könnte auch einen frischen Blick auf die | |
Lieblingsthemen der Journalist*innen werfen. | |
Zum Beispiel auf die Deutsche Bahn, ein Dauerbrenner. Bisher geht es meist | |
um Verspätungen, kaputte Klimaanlagen oder Fahrpreiserhöhungen. Worum es | |
auch mal gehen könnte: dass es die Bahn nach wie vor oft nicht schafft, | |
Menschen mit Mobilitätseinschränkungen zur gewünschten Reisezeit die | |
Mitfahrt zu ermöglichen. Man muss sich als behinderte*r Reisende*r | |
mindestens 48 Stunden vorab anmelden und hoffen, dass Hilfeleistung gewährt | |
wird. | |
Die Hilfeleistung kommt in Form eines Mitarbeiters mit einem gigantischen | |
Hublift daher, der ausschließlich von diesem einen Menschen bedient werden | |
darf, nicht von Begleitpersonen oder Schaffner*innen – aus | |
Versicherungsgründen. Zwar gibt es in den neuen ICE-Zügen automatische | |
Rampen direkt am Zug, um die Stufen in den Zug zu überwinden. Diese sind | |
aber häufig defekt – und die 48-Stunden-Frist für die Anmeldung hat auch | |
niemand abgeschafft. | |
Oder auf die Klimakrise – das Vermeiden von Plastikmüll ist in den | |
Verbraucher*innensendungen fast schon zum Wettbewerb geworden. Das | |
ist gut so, nur sollten Menschen mit Muskelerkrankungen [3][nicht dafür | |
verurteilt werden, dass sie Plastikstrohhalme benutzen]. Aufgrund ihres | |
geringen Gewichts bedeuten sie Selbstbestimmung beim Trinken. Oder auf das | |
Thema Religion, denn an der Sicht auf Behinderung als Strafe Gottes gibt es | |
einiges zu kritisieren, auch am Konzept der „Heilung“. | |
## „Niemanden gefunden“? Try again! | |
Sportler*innen mit Behinderung sollten porträtiert werden, weil sie | |
erfolgreiche Wettkämpfer*innen sind. Nicht weil sie ihr „Schicksal“ im | |
Wettkampf „überwinden“. Schauspieler*innen sollten nicht dazu befragt | |
werden, warum sie „trotz Downsyndrom“ nun in einem Film mitspielen. | |
Vielleicht sind sie einfach fähige Schauspieler*innen, die schlicht das | |
Downsyndrom haben – und trotz fehlender Inklusion in der Ausbildung so weit | |
gekommen sind. | |
Wenn nichtbehinderte Redakteur*innen sagen, sie hätten niemanden mit | |
Behinderung gefunden, der zum Thema Mobilität, Klima oder Religion etwas | |
sagen kann, dann haben sie schlicht ihren Job nicht gut genug gemacht, weil | |
sie die Zugänge zur Community nicht genutzt haben. | |
Menschen auf Augenhöhe waren behinderte Menschen im bisherigen Leben der | |
Journalist*innen wahrscheinlich nicht, falls überhaupt Begegnungen | |
stattfanden. Behinderte Menschen werden in dieser Gesellschaft nämlich | |
immer noch ziemlich oft aussortiert. Wenn sie überhaupt geboren werden, | |
landen sie auf Förderschulen und in sogenannten Behindertenwerkstätten – | |
Orte fernab des ersten Arbeitsmarkts und anderer Menschen ohne Behinderung. | |
Die vielfältige Besetzung einer Redaktion ist auch wichtig für die | |
journalistische Nachwuchsförderung. Bisher gibt es in Deutschland | |
vornehmlich Moderator*innen mit sichtbarer Behinderung, wenn es auch um | |
Behinderung in der Sendung geht. Man sollte es allerdings auch akzeptieren, | |
wenn behinderte Reporter*innen ebendieses Thema nicht abdecken wollen, | |
nicht das Gesicht der Diversity-Kampagne der Redaktion sein wollen, sondern | |
einfach nur ihrem Job nachgehen. | |
## Redaktionelle Macht | |
Journalist*innen sollten auch in der Sprache über behinderte Menschen | |
sensibler werden. Sprache schafft Bewusstsein und ist ein Werkzeug. Wir | |
können stets entscheiden, wie wir das Werkzeug einsetzen. Damit sensibel | |
umzugehen und nicht zu diskriminieren, sollte selbstverständlich für alle | |
von uns und insbesondere für Journalist*innen sein. „Das hat man schon | |
früher so gesagt“ oder „Ich bezeichne die Menschen, wie ich es für richtig | |
halte“ ist eine ignorante Haltung, die auch nicht zu einer diversen | |
Besetzung von Redaktionen führt. | |
Sprache offenbart die Einstellung gegenüber den Mitmenschen, wenn danach | |
gefragt wird, warum behinderte Menschen überhaupt fernab des Themas | |
Behinderung vorkommen sollten. Eine solche redaktionelle Entscheidung | |
treffen zu können bedeutet, eine ungeheure Macht zu haben und das Bild von | |
diesen Menschen in der Gesellschaft prägen zu können. Diese Macht sollte | |
nicht ausschließlich in den Händen nichtbehinderter Redakteur*innen | |
liegen. | |
17 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Judyta Smykowski | |
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