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# taz.de -- Kolumne Rollt bei mir: Und alle wollen helfen
> Manchmal braucht es jemanden, der einen ins Glück schubst. Oder den
> Bordstein runter. Was man zu können glaubt, kann man nochmal lernen.
Bild: Der Stein des Anstoßes, den man umfahren lernen muss
Neulich habe ich mir eine Challenge auferlegt, die zwangsläufig in der
Öffentlichkeit erledigt werden musste: Rollstuhlfahren – und zwar
ordentlich.
Ja, Sie lesen richtig. Ich tue immer nur so professionell, dabei habe ich
nie ein offizielles Training mit meinem Gefährt absolviert. Denn: Ich bin
von Geburt an gehbehindert, habe also keinen Verkehrsunfall gehabt, der
mich zu einer Rollstuhlfahrerin machte.
Die Menschen, die dies erleben, bekommen nämlich solche Trainings meist in
der Reha-Klinik. Ich dagegen habe meinen Rollstuhl mit neun Jahren
bekommen. Da hieß es: „Hier, bitteschön, dein Rollstuhl. Viel Spaß damit!�…
Die Behinderung war mir ja in die Wiege gelegt. Das Rollstuhlfahren musste
ich irgendwie selbst lernen.
## Den Kipppunkt finden
Auf Dauer sind die niedrigen Bordsteinkanten langweilig geworden, ich
wollte mich nun an die größeren heranwagen. Und so ging es mit einem Kumpel
auf die Straßen Berlins. Wir nahmen jeden Bordstein mit, den es gab, denn
mein Begleiter attestierte mir eine gewisse Ungelenkigkeit dabei.
Als ich vor einem hohen Kantstein besonders zitterte, sollte ich zunächst
eine andere Übung machen: Den Kipppunkt meines Rollstuhls finden, um besser
balancieren zu können. Das heißt: Auf die Hinterräder, anheben und
ausbalancieren.
Ich kam mir vor wie bei einer Alkoholkontrolle, die ich unmöglich bestehen
konnte. Nach einigen Versuchen klappte es dann aber erstaunlich gut und ich
balancierte auf der Stelle. Den Blicken nach zu urteilen muss das auf die
umherstehenden Leute ziemlich gewagt ausgesehen haben.
## Langsam abrollen
Wir fuhren Kantsteine rauf- und runter, übten das galante Ein- und
Aussteigen in die S-Bahn und fuhren abschließend zum Berliner
Alexanderplatz. Oh je, noch mehr Öffentlichkeit, mir war mulmig zumute.
Aber ich schrieb an dieser Stelle häufig etwas von zwischenmenschlichen
Berührungsängsten, die abgebaut werden müssen. Das war nun die
Königsdisziplin.
Am Alex sollte ich die Bordsteine rückwärts runterfahren, „langsam
abrollen“ hieß es. Ja klar, warum nicht gleich eine Klippe runterstürzen.
Die Übung war krass, die Angst der Leute um uns noch krasser, sie wollten
dauernd helfen.
Nach einer Zeit klappte auch diese waghalsige Trainingseinheit. Manchmal
braucht es jemanden, der einen ein bisschen ins Glück schubst, oder eben
einen Bordstein runter.
Liebe LeserInnen, das war die letzte Ausgabe von „Rollt bei mir“.
Es ging um vieles: persönliche Erfahrungen mit und durch die Behinderung.
Diese Erfahrungen standen ebenso für vieles; das Bewusstsein, nicht der
Mehrheit zu entsprechen und damit umzugehen, dieses als Stärke zu deuten.
Es ging oft um Reaktionen von nichtbehinderten Leuten. Dabei ging es mir
nicht um Anklagen, Beschuldigen oder um Vorführen, vielmehr um Vermittlung
und neue Perspektiven.
Denn Inklusion ist ein Prozess der Begegnung und des selbstverständlichen
Umgangs miteinander, der noch viel mehr und viel häufiger in unserer
Gesellschaft stattfinden muss – das wünsche ich uns von Herzen.
15 Mar 2017
## AUTOREN
Judyta Smykowski
## TAGS
Rollstuhl
Verkehr
Leben mit Behinderung
Leben mit Behinderung
Schwerpunkt u24 taz
Inklusion
Rollt bei mir
Rollt bei mir
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