# taz.de -- Journalismus mit Behinderung: Eine Chance für Inklusion | |
> Technischer Fortschritt in Coronazeiten kann mehr Teilhabe für Menschen | |
> mit Behinderung bedeuten. Nur: Digital heißt nicht immer barrierefrei. | |
Bild: Chance und Ausschluss: Für Menschen mit Behinderung ist Homeoffice ein z… | |
Oft steht in Stellenanzeigen für Lokaljournalist*innen: ein Führerschein | |
ist wünschenswert. Dieser Satz suggeriert: Wir stellen uns eine Karla | |
Kolumna vor, die von einem Ort zum nächsten eilt, immer auf der Jagd nach | |
der nächsten Geschichte. Dieser Satz sagt auch aus: Menschen mit | |
eingeschränkter Mobilität sind hier eher nicht vorstellbar. Einerseits weil | |
sie in Redaktionen noch zu selten vorkommen, andererseits weil der | |
[1][spärliche öffentliche Personennahverkehr] auf dem Land alles andere als | |
barrierefrei ist und Führerscheinstunden mit umgebautem Fahrschulauto | |
doppelt so viel kosten. Behinderte Menschen und der hypermobile | |
Journalismus scheinen unversöhnlich zu sein. | |
Doch dann kam die [2][Coronapandemie und plötzlich lief es auch weitgehend | |
unmobil]. Interviews wurden bei Skype geführt und trotz schlecht | |
aufgelöster Webcams sogar im Fernsehen gezeigt. Dort, wo es sonst | |
eigentlich um gestochen scharfe Bilder geht. Medienkonferenzen wurden | |
online abgehalten, Reisen zu Interviews oder Pressekonferenzen wurden zu | |
großen Teilen überflüssig. | |
Für viele körperlich behinderte Menschen ist der technische Sprung, den die | |
Pandemie erzwungen hat, eine Chance auf Teilhabe. Keine Stufen vor dem | |
Eingang, keine umständliche Anreise, weil auf der Strecke der Aufzug kaputt | |
ist. Dolmetschende der Gebärdensprache können dank Onlineveranstaltungen am | |
selben Tag in Hamburg und Zürich übersetzen. | |
Aber Vorsicht: Digital ist nicht gleich barrierefrei. Mobilität ist | |
keineswegs die einzige Dimension von Behinderung. Für gehörlose oder blinde | |
Menschen und Menschen mit Lernschwierigkeiten haben sich die Barrieren | |
teilweise bloß verlagert. | |
## Bei schlechter Verbindung aufgeschmissen | |
Zwar fällt für Gebärdensprachdolmetscher*innen die An- und Abreise | |
weg, aber auch im digitalen Raum bleiben sie noch Mangelware. Für ihre | |
Arbeit sind sie zudem auf eine schnelle Internetverbindung angewiesen, da | |
Aussetzer bei Bild und Ton ein Dolmetschen massiv erschweren oder manchmal | |
auch unmöglich machen. Natürlich sind alle bei schlechter Verbindung | |
aufgeschmissen, jedoch können nicht alle Menschen in diesem Fall einfach | |
ihre Webcams ausschalten, um Bandbreite zu sparen. Auch die Konzentration | |
von hörbehinderten Menschen auf das Mundbild der Sprechenden ist bei | |
schlechter Verbindung viel schwieriger. | |
Sehbehinderte und blinde Menschen, die vielleicht lieber an | |
Videokonferenzen per Telefon teilnehmen, müssen die entsprechenden | |
Bedienungsmöglichkeiten kennen. Zum Beispiel, dass sie bei Diensten wie | |
Zoom oder Google Meet mit der Tastenkombination *6 ihr Mikrofon einschalten | |
können, um an der Diskussion teilzunehmen. | |
Die Konferenzsysteme sind im vergangenen Jahr viel besser geworden, was | |
natürlich auch daran liegt, dass die Nachfrage auf einmal deutlich höher | |
war. Es gibt nun auch öfter die Möglichkeit, automatisch erstellte | |
Untertitel dazuzuschalten. Ein erster Schritt, allerdings ist diese | |
Funktion oft noch fehleranfällig. | |
Anderthalb Jahre sind es jetzt – und bis vor Kurzem, als die Inzidenzzahlen | |
wieder stiegen, gab es allerhand Schlagzeilen wie „Das Leben in der neuen | |
Normalität“, „Zurückkehren in die Normalität“. Für behinderte Menschen | |
bedeutet die „neue Normalität“ nach der Pandemie allerdings nichts weiter | |
als die alte Normalität: voller Privilegien für Nichtbehinderte und voller | |
Barrieren für den Rest. Insgeheim hatte man gehofft, dass dieser | |
gesellschaftliche „Neuanfang“ inklusiver gestaltet werden würde. Dafür ist | |
es noch nicht zu spät. Wichtig wäre, dass geschaffene digitale Alternativen | |
auch nach der Pandemie bestehen bleiben. | |
Von zu Hause aus ins Theater, Kino oder eben arbeiten. Auch im Homeoffice | |
hat sich eine Chance aufgetan für körperlich behinderte oder chronisch | |
kranke Arbeitnehmer*innen. Der Wunsch, Homeoffice für sie möglich zu | |
machen, ist viel älter als die Pandemie. Einerseits um sich die Kräfte | |
einzuteilen, andererseits um sich Barrieren auf dem Weg zur Arbeit zu | |
ersparen. Oder um überhaupt teilhaben zu können, wenn das denkmalgeschützte | |
Redaktionsgebäude sonst einfach nicht betretbar war. | |
Eine große Gefahr beim Homeoffice ist allerdings das drohende „Parken“ von | |
behinderten Menschen darin. Es ist einerseits eine gute Möglichkeit, | |
behinderte Arbeitnehmer*innen anzustellen, wenn die Büroräume nicht | |
barrierefrei sind. Auf der anderen Seite ist es für sie schwieriger, | |
Anschluss an das in Präsenz arbeitende Team zu bekommen. Hier müssen gute | |
und flexible Lösungen gefunden werden. | |
Denn in [3][Medienhäusern ist es entscheidend, dass Redakteur*innen | |
verschiedene Sichtweisen auf Geschichten haben] und verschiedene | |
Hintergründe mitbringen und sich dies in ihrer Themen- sowie | |
Protagonist*innenwahl niederschlägt. Behinderte Menschen sind an | |
dieser Stelle sowieso schon unterrepräsentiert. Vom Homeoffice aus Themen | |
zu überblicken und auch zu intervenieren, wenn die Perspektive von Menschen | |
mit Behinderung vergessen wurde, ist dann noch schwieriger. | |
Die Pandemie birgt eine Chance, den Journalismus inklusiver und | |
barrierefreier zu machen. Dazu gehört auch, Menschen mit | |
Lernschwierigkeiten zu befragen, auch wenn die Zugänge zu den Wohnstätten, | |
in denen sie meist leben, schwieriger sind und es bequemer ist, die | |
nichtbehinderten Pressesprecher*innen zu befragen. Dass diese Menschen | |
noch viel zu selten in den Medien zu Wort kommen, konnte man bei der | |
Berichterstattung über die Tötungen im Potsdamer Oberlinhaus und auch bei | |
der aktuellen Flutkatastrophe beobachten. | |
Gerade im Wahljahr müssen wir Journalist*innen diese Sichtweisen wieder | |
mehr in den Vordergrund rücken: Menschen mit Behinderung sind Wähler*innen, | |
die auch das Recht haben, mit ihren Interessen vertreten und barrierefrei | |
informiert zu werden. Sie sind ein Thema genauso wie die Besteuerung von | |
Besserverdiener*innen oder Leistungen für Familien. | |
Barrierefreier Journalismus heißt: mehr Angebote in Leichter Sprache und | |
Gebärdensprache, barrierefreie Webseiten für Screenreader-Nutzende, aber | |
auch barrierefreie Angebote in den sozialen Medien. Inklusiver Journalismus | |
bedeutet: mehr Journalist*innen mit Behinderung und anderen | |
Vielfaltsmerkmalen in die Redaktionen holen, mehr Protagonist*innen | |
abseits ihrer Behinderung zu den verschiedensten Themen befragen. Noch | |
können wir die neue Normalität inklusiver gestalten. | |
28 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Judyta Smykowski | |
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