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# taz.de -- Journalistische Unarten: Mut zur Zumutung!
> Runterbrechen auf mundgerechte Stücke, gerne mit Tralala: Mit dieser
> journalistischen Unart muss ein für alle Mal Schluss sein.
Bild: Das Mini-Max-Prinzip: Täglich „Snackable Content“, bloß nichts, auf…
„Runterbrechen“. Eines der gefährlichsten Worte im ganzen Journalismus. Die
meisten – wetten? – lernen es in den ersten vier Wochen
Redaktionspraktikum. „Wir müssen das runterbrechen“, heißt es dann. Oft
flankiert vom alten Satz: „Der Leser-Zuhörer-Zuschauer ist dumm.“ Die
freundliche Lesart wäre: „Lasst uns Komplexes veranschaulichen.“ Die
gängigere, die das Wort so gefährlich macht, steckt im Begriff selbst. Er
bezeichnet eine Handlung, die Materie verwandelt, als sei’s kein Eingriff;
obendrein kein filigranes Tun – grobes Brechen reicht offenbar. „Herunter“
verrät, dass ein Höhenunterschied angenommen wird.
Unten, da sind die, die dieser Journalismus adressiert. Oben: die, die
schreiben, texten, berichten. Die oben Komplexes weglassen, um bloß unten
niemanden zu überfordern, statt ihnen auch mal etwas zuzumuten. Auf
Englisch nennt man das „to dumb it down“.
„Runterbrechen“ ist eine Ideologie der Überheblichkeit. Doch das
Pandemiejahr hat sichtbar gemacht, wie überholt dieses Konzept in der
Berichterstattung ist. Es baute sich im Hintergrund eine Gegenbewegung auf:
Die, die all das lesen, hören, nutzen, anschauen, was Journalist:innen
produzieren, wollen nicht länger für blöd verkauft werden.
Die Indizien häuften sich. Vorneweg der [1][Drosten-Podcast „Coronavirus
Update“], den die NDR-Info-Wissenschaftsredakteurin Korinna Hennig von
Anfang an mit betreute. Schon im Frühling 2020 bilanzierte Hennig: „Wir
Journalisten unterschätzen unser Publikum ständig. Es geht mehr, als wir
immer denken.“ Man müsse „nicht immer alles runterbrechen auf
Küchenniveau“. Sie sei sicher: „Viele Hörer finden es besser, wenn man sie
permanent leicht überfordert, als ihnen Banalitäten zu servieren.“
Den Eindruck teilt die Datenjournalistin Marie-Louise Timcke. Timcke leitet
das Interaktiv-Team bei Funke und startete bereits Anfang März 2020 den
detaillierten „Coronavirus Monitor“. Daten zu visualisieren, das diene
sonst dazu, Komplexes ohne „Beipackzettel“ verständlich zu machen, sagte
Timcke, doch: „Bei Corona merken wir, dass die Gesellschaft bereit ist,
sich auch mal in etwas einzulesen. Das eröffnet uns künftig vielleicht auch
bei anderen Themen neue Möglichkeiten.“
## Nachfrage nach informationsdichter Berichterstattung
Hennig und Timcke klangen damals beide verwundert, fast überrascht. Zwei
Journalistinnen, Jahrgang 1974 und 1992, beide geprägt von der Schule des
„Runterbrechens“. Die auf einmal feststellten: Huch, die, für die wir das
machen, wollen ja mehr, als wir bislang dachten. Sie fragen uns, wie sich
ein Pre-Review-Paper beurteilen lässt. Sie fragen nach der vierten Stelle
hinterm Komma.
Naja, könnte man sagen, klar stiegen alle so tief bei Corona ein, sie sind
ja unmittelbar, existenziell bedroht. Hatten außerdem mehr Zeit und hingen
nur online herum. Aber das greift zu kurz.
Die Nachfrage nach hochzielender, informationsdichter Berichterstattung und
Analyse ist auch darüber hinaus spürbar. Denn 2020 war auch das Jahr, in
dem Redaktionen dem Bedürfnis nach ausführlichen politischen Inhalten
nachkamen. Wegen der lauter werdenden „Black Lives Matter“-Bewegung, wegen
des US-Wahlkampfs. In den USA etwa brachte die New York Times einstündige
Podcasts zur Wahl: „The Argument“ für detaillierte Analysen, „The Field�…
als Reportageserie über Anhänger:innen verschiedener Kandidat:innen.
Statt „Die Top-News des Tages in drei Minuten“ zogen auch deutschprachige
Angebote nach. So etwa das Langformat „Das Politikteil“ der Zeit im März
2020; und schon mit Folge eins erklärte „Was geht, Amerika?“, auch aus der
Zeit-Familie, man habe fix das Konzept umgekrempelt – für US-Politik statt
Kulturgeschichtliches. Zum Bundestagswahlkampf nun widmet sich die Welt
wöchentlich im 30-Minuten-Podcast „Machtwechsel“ dem Stand der Dinge, die
taz startet den einstündigen „Bundestalk“. Weil der Bedarf da ist,
gefordert zu sein.
Und nein, das oft affektierte Etepetete des Kulturjournalismus von FAZ bis
taz gehört nicht in die Reihe, wo die ersten drei Absätze das
Standesdünkelrevier abgrenzen, um allen anderen zu zeigen: „Du bist dumm.“
## Investigativ statt Klamauk
Mit am deutlichsten ist diese Verschiebung in Bereichen, die bislang eher
für Unterhaltung stehen, etwa die Privatsender: [2][Joko und Klaas bei
Pro7], die in speziellen 15-Minuten-Formaten Themen wie den Pflegenotstand
oder Gewalt gegen Frauen aufarbeiten, für Letzteres gab’s Nannen- und
Grimmepreis; Louis Klamroth und Linda Zervakis, sie frisch von der ARD
gewechselt, die die Spitzenkandidat:innen zur besten Sendezeit
interviewen; RTL setzt ab August für eine neue Sendung auf die Ex-ARD-Leute
Pinar Atalay und Jan Hofer – für 20 Minuten Tagespolitik zur
Tagesthemenzeit.
Der Kölner Sender kooperiert zudem mit der Initiative „Klima vor acht“ und
bringt (mit NTV, Geo und Stern) zweimal die Woche acht Minuten „Klima
Update“, während die ARD, auf deren „Börse vor acht“-Sendeplatz die
Kampagne eigentlich abzielte, wiederholt abgelehnt hat und stattdessen nun
mit „Sprüche vor acht“ banalste Sprichwortforschung bringt.
Jan [3][Böhmermann ersetzt in seinem „ZDF Magazin Royale“] den Klamauk mit
Investigativstorys zur deutschen Kolonialgeschichte oder Frontex.
Stand-up-Komikerin Enissa Amani, auch frisch grimmepreisgekürt,
organisierte eigenhändig mit „Die beste Instanz“ eine Runde über Rassismus
als Gegenprogramm zu einem rassistischen WDR-Talk, weil der Sender nicht
selbst draufkam.
Ein erstes Zeichen, dass sich was dreht, gab’s 2019: Rezos „Die Zerstörung
der CDU“ auf Youtube; 55 Minuten voller Studien, Statistiken hatten nach
vier Tagen schon 13 Millionen Aufrufe.
## Schluss mit Runterbrecherei
Der große Rest des Journalismus hat Angst vor zu viel Zumutung. Dem in
allerlei Umfragen festgehaltenen „Misstrauen“ gegen „die Medien“ scheint
man begegnen zu wollen, indem man die Zielgruppe ablenkt mit Tralala. Und
per Mini-Max-Prinzip: Täglich viel „Snackable Content“, bloß nichts, auf
dem man rumkauen muss! Journalismus, befindet der Journalismus also, könne
nur noch funktionieren, indem man ihn in all seiner Unterhaltsamkeit
anpreist. Material zur Meinungsbildung bitte nur noch unter Gimmicks
gemischt wie zerbröselte Wurmkurtabletten.
Nichts anderes ist die Berichterstattung über die Scharmützel rund um
Annalena Baerbocks „Fehler“: auf Drama gebürsteter Boulevardjournalismus
wie in Bunte und Gala. Spiegel-Journalist Markus Feldenkirchen klagte
neulich, wiederum in einem Podcast, dass bei all dem niemand über Inhalte
spreche. Hm, möchte man ihm zuflüstern, dann macht doch mal.
Das Publikum weiß, dass es unterschätzt statt geschätzt wird. Dass ein paar
neue Formate neben das Oberflächenblabla drängen, ist ein Indiz: Schluss
mit der Runterbrecherei. Mehr Mut zur Zumutung! Nach dem Dauer-Lockdown
gilt: Wir alle wollen Zeit sinnvoll füllen. Und sicher nicht mit
Häppchenjournalismus.
21 Jul 2021
## LINKS
[1] /NDR-Hoerfunkdirektorin-im-Gespraech/!5704593
[2] /Maennerwelten-Video-von-Joko--Klaas/!5683366
[3] /Jan-Boehmermann-im-ZDF-Hauptprogramm/!5726806
## AUTOREN
Anne Haeming
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