# taz.de -- Mehr aktivistischer Journalismus: Sagen, was besser sein muss | |
> In der Pandemie hätte der Journalismus beweisen können, dass er | |
> Gesellschaft von unten denken kann. Daran sind wir gescheitert. | |
Bild: Eine Altenpflegerin am Limit: Über sie wurde seltener in der Pandemie be… | |
Journalismus scheint mir nicht so sehr ein Modus zu sein, der sagt, was | |
ist; vielmehr sagt er, was passiert. Im Journalismus sind Akteure immer um | |
einiges interessanter als passiv Erduldende. Für Letztere gibt es zwar auch | |
Platz in vielen Zeitungen; die Seite drei etwa oder Reportageformate im | |
Gesellschaftsteil. Das sind mitfühlende Stücke, die von Leid und | |
Ungerechtigkeit erzählen; von Themen vor allem, die es selten auf die | |
Titelseite schaffen. | |
Das wurde während der Pandemie zum Problem, weil plötzlich ein großer Teil | |
der Bevölkerung potenzielles Opfer wurde – Opfer einer menschlich | |
induzierten Naturkatastrophe. Denn es gab bis dato [1][wenig Sensibilität | |
für Behinderung], Gebrechlichkeit, Vulnerabilität, überhaupt für die | |
meisten Themen, die mit Pflege und sozialer Arbeit zusammenhängen. | |
Natürlich gibt es einzelne Journalist*innen, die sich damit sehr gut | |
auskennen, aber es gilt und wird behandelt als Spezialthema – ganz im | |
Gegensatz etwa zu Wahlkämpfen und Parteipolitik. | |
Die Akteur*innen aus Pflege und aus dem sozialen Bereich kamen in den | |
Nachrichten selten zu Wort. Zur Einordnung der Krise wurden | |
Virolog*innen und Ärzt*innen befragt, und wenn überhaupt Pflegende | |
sprachen, dann häufig jene [2][von den Intensivstationen]. Diese | |
tendenziell unkritische Haltung hat sich bis in Details gezeigt, bis hin | |
zur sprachkritischen Ebene: Konzepte wie die „Risikogruppen“ wurden | |
meistens unhinterfragt übernommen, ohne zu benennen, was dieses Wort | |
tatsächlich bedeutet: Segregation. Eine Analyse allein dieses Konzeptes | |
hätte zum Ergebnis haben können (wenn nicht müssen), dass diese | |
Gesellschaft eine grundlegend behindertenfeindliche ist und dass sich | |
dieser Ableismus in Zeiten einer Krise und damit einhergehender Appelle an | |
Solidarität und Zusammenhalt noch deutlich verschärft. | |
Unabhängig von einer grundsätzlichen ideologischen Kritik hat sich diese | |
mangelnde Sensibilität auch en détail gezeigt. Es hat immer wieder Anlässe | |
gegeben, politische Entscheidungen zu thematisieren und zu skandalisieren. | |
Zum Beispiel der Eiertanz um die Priorisierungen: als Zugeständnis an die | |
„Normalen“, also jene, die sich irgendwie dafür halten, hat man ganze | |
Branchen vorgezogen, auf Kosten derjenigen, die sich ein Jahr lang komplett | |
aus allem herausgenommen hatten. NRW hat lieber ausgewählte Berufsgruppen | |
durchgeimpft, bevor alle sogenannten Risikogruppenmitglieder dran waren, | |
ist das zu fassen? Da kommt nach Willen der Union der nächste Kanzler her. | |
Trotzdem gab es dazu keine großen Titel. Stattdessen war die Meldung im | |
Mai, dass ungenutzte Impfdosen herumlagen: Anlass für viele Kommentare, | |
doch endlich die Impfpriorisierung aufzuheben. | |
## Nöte und die Herausforderungen | |
Das systematische Bevorzugen von Berufsgruppen, von sogenannten und | |
selbsternannten Leistungsträger*innen ist nicht polemisch gegeißelt | |
worden. Diese Zurückhaltung ist das Resultat einer Vernachlässigung | |
Marginalisierter durch alle anderen. | |
Es ist ein Problem einer Politik, die sich sicher sein kann, bessere | |
Beliebtheitswerte zu haben, wenn sie die Interessen der sogenannten Mitte | |
über die der Marginalisierten stellt; sie ist aber auch ein Problem eines | |
Journalismus, der marginalisierte Menschen in erster Linie als | |
Reportagethema sieht und nicht als Titelseitenmaterial. Und das betrifft | |
sehr viele Bereiche. Als Alleinerziehende ihre 300 Euro Coronabonus mit dem | |
abwesenden Elternteil teilen mussten, hat das auch kaum jemanden | |
interessiert. Die Alleinerziehenden sind eben nicht sonderlich laut. | |
Es gab immerhin zarte Versuche, die Pflege detaillierter darzustellen, ihre | |
Nöte und die Herausforderungen. Pro7 hat eine ganze Nacht lang den | |
Arbeitsalltag auf einer Normalstation gezeigt. Trotzdem zeigte sich ein | |
deutliches Ungleichgewicht in den Berichten über Pflegende: Es ging fast | |
immer um Krankenhäuser, insbesondere um Intensivstationen. Die aber haben | |
zum Teil fundamental andere Interessen als Altenpfleger*innen oder | |
ambulante Dienste. Das wird den wenigsten beim Medienkonsum klargeworden | |
sein. Man sah Pflege und Soziales als große, homogene, diffuse Bereiche. | |
Das Informationsdefizit ist derart groß, dass der einzelne Artikel es auch | |
gar nicht beheben kann. Der ganze Bereich soziale Arbeit und Care Arbeit | |
ist nach 17 Monaten Pandemie immer noch so an den Rand gedrängt wie vorher, | |
obwohl ihn doch alle inzwischen systemrelevant finden. Vergeblich sucht man | |
Kommentar- oder Kolumnenplätze für Beschäftigte aus diesen Bereichen. | |
## Fixierung auf die Falschen | |
Stattdessen gab es einerseits eine ungesunde Fixierung auf | |
[3][„Querdenker*innen“ und Impfverweigerer]. Die waren ja auch gutes | |
Material, schrill, bunt, Hippies Hand in Hand mit Nazis. Mir schien es, als | |
bräuchte man in den Redaktionen diese irgendwie als skurril, verwirrt und | |
lachhaft wahrgenommenen Gestalten, weil sich so eine eindeutige Position | |
beziehen ließ: Im Kontrast zu „Querdenken“ war es einfach, vernünftig und | |
humanistisch zu sein. | |
Und andererseits gab es eine Fixierung auf Zahlen: | |
Intensivbettenauslastung, Inzidenzen, R-Wert. Der Blick darauf hat oft | |
weltanschauliche Kritik überdeckt: es war ein Wettlauf, wer die genauesten | |
Zahlen hat und wer sie am besten lesen kann. Es gab eine sich selbst | |
absichernde Wissenschaftlichkeit, die dazu führte, dass viel aus einer | |
entrückten Position heraus diskutiert wurde. Als ginge es nicht auch für | |
einige um Leben und Tod. Aber das klingt halt zu dramatisch. Damit macht | |
man sich unglaubwürdig, und man kann auch nicht mehr den edlen, über den | |
Dingen schwebenden Stil einer vermittelnden Instanz einnehmen. Das | |
journalistische Homeoffice wurde so teilweise zum Elfenbeinturm, | |
Statistiken verkamen zu einer Form der Selbstvergewisserung. | |
Journalismus hat den Anspruch, objektiv zu sein; es scheint aber zu wenig | |
Bereitschaft gegeben zu haben, sicheres Terrain zu verlassen. Es hätte | |
eines Journalismus bedurft, der jenen eine Stimme gibt, die keine | |
Pressekonferenzen abhalten, kurzum: eines engagierten, auch aktivistischen | |
Journalismus. Sagen, was ist, heißt auch: sagen, was besser sein muss. | |
11 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
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