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# taz.de -- Mehr Wissenschaft im Journalismus: Ewige Suche nach dem B-Sager
> In Redaktionen braucht es mehr Wissenschaft, so das Fazit einer
> Arbeitsgruppe. Das würde auch beim Umgang mit Politikern wie Merz oder
> Maaßen helfen.
Bild: Die Wissenschaftsjournalistin Anja Martini
Gehaltvolle Infos über die Zukunft des Journalismus bekommt man
normalerweise nicht von Ministerien. Eine Ausnahme ist ein Reader, den das
Bundesministerium für Bildung und Forschung kurz vor der Sommerpause
veröffentlicht hat. Titel: „[1][#FactoryWisskomm] – Handlungsperspektiven
für die Wissenschaftskommunikation“. Eine Arbeitsgruppe, die sich auf
Initiative des Ministeriums gebildet hatte, schreibt darin:
„Wissenschaftsjournalismus ist wichtig in allen Ressorts.“ In allen?
Tatsächlich eine wichtige Erkenntnis aus Debatten über Journalismus während
der Pandemie. Denn wenn wir über die Zukunft des Wissenschaftsjournalismus
reden, müssen wir über den Journalismus als Ganzes reden.
Wissenschaftsjournalismus müsse stärker „mit anderen journalistischen
Bereichen, etwa Politik und Wirtschaft“ vernetzt werden, heißt es in dem
Papier. Das hat ARD-aktuell, die Hamburger Redaktion hinter „Tagesschau“
und „Tagesthemen“, bereits umgesetzt. Seit Beginn des Jahres berichtet Anja
Martini für „Tagesschau“, tagesschau.de und Tagesschau 24. Martini gehörte
2020 in der Wissenschaftsredaktion von NDR Info zu den Moderatorinnen des
Podcasts mit Christian Drosten.
„Wissenschaftliche Erkenntnisse für die Berichterstattung zu prüfen,
einzuordnen und verständlich zu vermitteln – das ist für die „Tagesschau�…
während der Coronapandemie noch wichtiger geworden“, sagt Marcus Bornheim,
der Erste Chefredakteur von ARD-aktuell. Eine weitere Aufgabe Martinis, so
Bornheim: „Sie berät die Nachrichtenredaktionen bei Wissenschaftsthemen.“
Plastischer formuliert: Martini filtert gegebenenfalls Studien heraus, die
keine Nachricht wert sind – etwa, wenn sie lediglich Lobbyisteninteressen
dienen, aber im wissenschaftlichen Gewand daherkommen.
„Das ist eine Rolle, die es in Nachrichtenredaktionen in der Regel bisher
nicht gibt“, sagt Franco Zotta, Geschäftsführer der
Wissenschaftspressekonferenz (WPK). Das Bild, das Zotta skizziert, ist
beunruhigend: Offenbar war es bisher gang und gäbe, dass für Nachrichten
zuständige Redakteur:innen Studien verbreiteten, die
Wissenschaftsjournalist:innen im selben Medienhaus als abenteuerlich
eingestuft hätten.
## Fatale Folgen in der Pandemie
Dass der Wissenschaftsjournalismus bisher ungenügend vernetzt war mit
anderen Ressorts, hatte [2][während der Pandemie fatale Folgen]. So lässt
sich jedenfalls eine Einordnung von Volker Stollorz zusammenfassen.
Stollorz leitet das Science Media Center Germany, das Expert:innen an
den Journalismus vermittelt und bei der Einschätzung von
Forschungsergebnissen hilft. Im Herbst 2020 sei es „vielen gewissenhaft
arbeitenden Wissenschaftsjournalisten“ nicht mehr gelungen, „ihrem Publikum
den breiten fachlichen Konsens über die drohende winterliche Welle
klarzumachen“, schrieb Stollorz im Januar.
Denn viele Medien hätten Zweifel geweckt an dem, „was längst
wissenschaftlicher Konsens war“. Stollorz, der wie Zotta zur
#FactoryWisskomm-Arbeitsgruppe gehörte, beklagt die „übermächtigen
Reflexe, jede Einschätzung aus der Wissenschaft mit einer Gegenposition zu
kontrastieren“. Auch der Journalismus trägt somit gewissermaßen eine
Mitverantwortung für Tausende Pandemietote.
[3][Die „Reflexe“], die Stollorz beschreibt, wiederholten sich im März
2021: „In eine steigende Welle hinein beschloss die Politik Lockerungen,
die sie wenige Wochen später wieder zurücknehmen musste“, sagt Franco
Zotta. Als die Entscheidung fiel zu lockern, „hatten wir eine Kakophonie an
Positionen, sodass die Politik sagen konnte: Die Wissenschaft weiß es
nicht.“ Alle seriösen Wissenschaftler wussten es indes sehr wohl: Sie
hatten zu dem Zeitpunkt von Lockerungen abgeraten.
Warum aber wecken Journalist:innen Zweifel am wissenschaftlichen
Konsens? Während Wissenschaftsjournalist:innen darauf schauen, wie
oft jemand in der Fachliteratur zitiert wird, um einen Experten einschätzen
zu können – der Klimaforscher Stefan Rahmstorf hat das in einem Beitrag für
den Spiegel beschrieben –, hat der Politikjournalismus andere Maßstäbe.
## Ein großes Missverständnis
„Wenn einer A sagt, sucht der Politikjournalist jemanden, der B sagt.“ Das
sei beim Streit über Meinungen völlig legitim, sagt Zotta. „Aber bei den
Fragen, über die wir in den letzten eineinhalb Jahren gestritten haben, ist
das nicht der richtige Zugang.“ Das Problem sei: „Man findet immer
jemanden, der nicht A sagt. Diese Wissenschaftler warten ja nicht darauf,
dass ein Journalist anruft, sondern sie versuchen, in den öffentlichen Raum
einzudringen – aus welchen Motiven auch immer.“
Ähnlich argumentierte [4][in einer Bilanz des ersten Pandemiejahres] die
Medizinjournalistin Silke Jäger von Krautreporter: Nur weil jemand
„Sachbücher schreibt“, sei er noch lange kein „ernstzunehmender
Gesprächspartner“. Es sei „ein großes Missverständnis, dass der
wissenschaftliche Diskurs dem politischen Diskurs gleicht.
Wissenschaftler:innen streiten durch ihre Forschungsarbeit. Wer nicht
publiziert, redet nicht mit.“
Als Kritiker dieser Position hat sich jedoch der Medien- und
Politikjournalist Andrej Reisin zu Wort gemeldet. [5][Er moniert bei
Übermedien], dass gut vernetzte und hoch dekorierte
Wissenschaftsjournalist:innen „eine merkwürdige Art von Gatekeeping“
betrieben, indem sie entschieden, „wer als Expert:in genehm und welches
Thema diskussionswürdig ist“.
„Wenn es interessierten Kreisen gelingt, den Eindruck zu erwecken, dass im
Prinzip keiner weiß, was richtig oder falsch ist – dann handeln
Gesellschaften nicht“, warnt dagegen Franco Zotta. Das sei
„kommunikationstheoretisch gut erforscht“. Jene, die so einen Eindruck
erzeugen wollen, bezeichnen die Wissenschaftshistoriker*innen Naomi
Oreskes und Erik M. Conway als „merchants of doubt“ (Händler des Zweifels).
In ihrem gleichnamigen Buch zeigen sie auf, dass an der Schädlichkeit des
Rauchens bereits in den 1960er Jahren kein wissenschaftlicher Zweifel
bestand – aber noch 30 Jahre lang so darüber diskutiert wurde, als wäre der
Wissensstand nicht klar.
## Abstruse Positionen verbreitet
Ein anderer Umgang mit inhaltlicher Substanz wäre nicht nur bei
Wissenschaftsthemen wünschenswert. Im digitalen Politik- und
Nachrichtenjournalismus zählt ja nicht die Qualität oder Relevanz einer
Politikeräußerung, sondern die bei der Verbreitung zu erwartende
Reichweite.
So werden ohne jegliche weitere Einordnung abstruse politische Positionen
verbreitet, die aus anderen Gründen gefährlich sind als eine irrelevante
Mindermeinung eines in die Öffentlichkeit drängenden Wissenschaftlers. Die
Geschäftsmodelle von Friedrich Merz oder Hans-Georg Maaßen funktionieren
nur deshalb, weil der Journalismus in dieser Hinsicht verantwortungslos
handelt.
Die Voraussetzung dafür, dass der Wissenschaftsjournalismus den
Journalismus in Gänze befruchten kann, wäre, dass sich Redaktionen
zumindest teilweise von ihrer bisherigen Reichweitenstrategie
verabschieden. Nachrichten- und Politikjournalist:innen müssten dem
Druck widerstehen, alles ganz schnell in die Info-Stratosphäre zu pusten,
weil die anderen es auch tun. Um es pathetischer oder eben mit Kant zu
sagen: Sie bräuchten den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.
4 Aug 2021
## LINKS
[1] https://www.wissenschaftskommunikation.de/factorywisskomm-das-bmbf-laedt-ei…
[2] /Berichterstattung-ueber-Corona/!5704128
[3] /Diskussion-um-Heinsberger-Studie/!5675286
[4] https://krautreporter.de/3658-vier-lektionen-nach-einem-jahr-pandemie
[5] https://uebermedien.de/60528/die-blinden-flecke-des-wissenschaftsjournalism…
## AUTOREN
René Martens
## TAGS
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