| # taz.de -- Raul Krauthausen über Mediennarrative: „Die Sprache ist paternal… | |
| > Medien stilisieren Menschen mit Behinderung oft als Held*innen oder | |
| > Opfer. Raúl Krauthausen fordert, dass Journalist*innen sich mehr | |
| > hinterfragen. | |
| Bild: „Es gibt zu wenig Menschen mit Behinderung im Journalismus“, sagt Rau… | |
| taz: Herr Krauthausen, Sie beschäftigen sich seit Jahren damit, wie | |
| Menschen mit Behinderung in den Medien dargestellt werden, und haben 2010 | |
| über das Thema ihre Diplomarbeit verfasst. Welches Narrativ beobachten Sie | |
| am häufigsten? | |
| Meistens die leidvolle Geschichte, wo gesagt wird, jemand „meistert tapfer | |
| sein Schicksal“, macht „trotz der Behinderung“ etwas, „kämpft sich zur… | |
| ins Leben.“ Es wird davon ausgegangen, dass Behinderung eine Bürde, etwas | |
| Schmerzhaftes, zu Therapierendes sei. Entweder das oder die | |
| Darstellungsweise ist übertrieben positiv, und die Person wird zum | |
| Superhelden hochstilisiert. | |
| Was finden Sie daran problematisch? | |
| Es wird immer der Mensch mit Behinderung direkt oder indirekt als | |
| verantwortlich gesehen, wie mit einer Behinderung umzugehen ist. Also er | |
| oder sie sollte Therapie machen, er oder sie wird bewundert, weil er „trotz | |
| der Behinderung“ einkaufen geht, in die Disco geht oder Drogen nimmt. | |
| V[1][iel zu wenig wird diskutiert, warum es eigentlich so eine Seltenheit | |
| ist, Menschen mit Behinderung in der Disco zu sehen.] Warum Menschen mit | |
| Behinderung eigentlich alle therapiert werden sollten. Warum reden wir | |
| nicht darüber, mehr Aufzüge zu bauen oder barrierefreie Schulmaterialien zu | |
| kreieren? | |
| Man kann das an der Debatte über Gehörlöse sehen, wo die Frage gestellt | |
| wird: Sollten alle Menschen Gebärdensprachen lernen oder sollten Gehörlose | |
| ein Cochlea-Implantat tragen? Das Zweite ist ein körperlich-medizinischer | |
| Eingriff, der irreversibel ist, und das andere ist etwas, was man | |
| unterrichten könnte oder für das man Untertitel bereitstellen könnte. Ist | |
| die Person mit Behinderung das Problem oder die Gesellschaft? | |
| Journalist_innen stellen zu selten die Frage, ob die Gesellschaft das | |
| Problem ist. | |
| Warum haben nichtbehinderte Menschen so große Wissenslücken, was Menschen | |
| mit Behinderung angeht? | |
| Das liegt zum einen daran, dass wir viel zu wenig diskutieren, warum | |
| Menschen mit Behinderung selten zu sehen sind im Alltag. Das hat oft mit | |
| exkludierenden Strukturen zu tun. Menschen mit Behinderung landen in | |
| Förderschulen und Werkstätten und nicht in Regelschulen. Der Grund dafür | |
| ist die Behinderung, aber es wird viel zu wenig auch medial diskutiert, ob | |
| die Mehrheitsgesellschaft es sich damit nicht zu einfach macht. Also | |
| Minderheiten wegsperren, das sag ich jetzt mal so böse, ist einfacher, als | |
| die Mehrheitsgesellschaft für Menschen mit Behinderung zu öffnen. | |
| Und was könnten Medien konkret anders machen? | |
| Ich glaube, Journalist_innen sind in der Verantwortung, sich immer mehr mit | |
| der Frage zu beschäftigen: Warum existieren diese Strukturen eigentlich | |
| immer noch? Wer spricht eigentlich über Behinderung? Sind das wieder nur | |
| Politiker und Politikerinnen, Werkstättenbetreiber_innen und Pädagog_innen | |
| oder sind es auch Menschen mit Behinderung selbst? Auch in | |
| Selbstvertretung? Das ist so ein bisschen wie bei Kindern. Kinder haben in | |
| Deutschland ebenfalls keine Lobby, da reden nur die Erwachsenen. Bei dem | |
| Thema Behinderung ist es ähnlich. Journalist_innen könnten hier einfach mal | |
| anfangen, indem sie behinderte Menschen fragen, was sie sich wünschen und | |
| was sie brauchen. | |
| Welche Medien nutzen Sie regelmäßig? | |
| Fast ausschließlich das Internet. Ich lese keine Zeitungen oder schaue | |
| Programmfernsehen. Allerdings nicht aufgrund meiner Behinderung, sondern | |
| das ist so ein Generationending. Ich höre Podcast, nutze YouTube, Facebook | |
| und lese Blogs. Ansonsten noch bisschen Spiegel Online, wie alle eben. | |
| Wie schätzen Sie die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Redaktionen | |
| ein? | |
| Superschlecht. [2][Es gibt viel zu wenig Menschen mit Behinderung im | |
| Journalismus.] Was zum Teil daran liegt, dass der Journalismus aktuell | |
| sowieso eine kleine Krise hat. Die Liste von Menschen, die in Redaktionen | |
| unterrepräsentiert sind, ist sehr lang. Ein weiteres Problem ist, dass | |
| Menschen mit Behinderung die Arbeit im Journalismus zum Teil nicht | |
| zugetraut wird, und auch die journalistische Ausbildung ist problematisch. | |
| Menschen mit Behinderung werden in Journalismusschulen gar nicht erst | |
| angenommen, weil die Räumlichkeiten oder die Materialien nicht barrierefrei | |
| sind. Das Thema ist da gar nicht präsent. | |
| Nehmen Sie auch positive Veränderungen in der Berichterstattung wahr? | |
| Wir beobachten im Rahmen unseres [3][Portals leidmedien.de,] mit dem wir | |
| Medien zum Thema Inklusion beraten, spannende Veränderungen. Wir hatten zum | |
| Beispiel vor ein paar Jahren eine Anfrage [4][der Kindersendung „1,2 oder | |
| 3“]. Die Redaktion hatte beobachtet, dass immer mehr Schulklassen mit | |
| Kindern mit Behinderung in die Studios kommen, aber das Studio nicht | |
| barrierefrei ist zum Mitspielen. | |
| Das heißt, die haben von sich aus den Druck verspürt, da jetzt was tun zu | |
| müssen. Da war kein Aktivist oder ein Interessenverband, der dem ZDF die | |
| Leviten gelesen hat. Die Redaktion ist von selbst auf die Idee gekommen: | |
| „Da könnten wir ja was machen.“ Die haben uns dann gefragt: „Wie können… | |
| unser Studio barrierefrei machen?“ Wir haben denen ein paar Tipps gegeben, | |
| sind nach Mainz gefahren, haben mit dem Moderator Elton über Studiodesign | |
| gesprochen. Es hat danach noch anderthalb Jahre gedauert, bis es umgesetzt | |
| wurde, aber jetzt ist das Studio für rollstuhlfahrende Kinder einigermaßen | |
| zugänglich. Jetzt spielen immer mal wieder Kinder mit Behinderung in den | |
| Teams mit und zeigen damit Tausenden Kindern vorm Fernsehen: Die gehören | |
| dazu. Ich würde die These aufstellen, dass das Bewusstsein in Redaktionen | |
| gestiegen ist, dass Behinderung ein Bestandteil der Gesellschaft ist und | |
| das es nicht immer in Sonderwelten stattfinden muss. Das Beispiel war ein | |
| kleiner messbarer Erfolg, aber es ist noch ein ganz weiter Weg zu gehen. | |
| Ich glaube aber, man kann das Thema nicht mehr wegdiskutieren. Es ist jetzt | |
| da und es wird weiter nerven. | |
| Sie verschicken wöchentlich einen Newsletter, unter anderem mit Links zu | |
| Medieninhalten rund um das Thema Inklusion. Fällt Ihnen in der | |
| Berichterstattung eine Sensibilisierung in der Sprache auf? | |
| Also die Phrase [5][„an den Rollstuhl gefesselt“] findet man nicht mehr so | |
| häufig. Die Darstellung des übertriebenen Leidens wird weniger. Insgesamt | |
| ist die Sprache aber noch sehr paternalistisch, es wird weiterhin noch sehr | |
| von oben herab berichtet. | |
| Welche Wörter oder Sätze wollen Sie in der Berichterstattung über Inklusion | |
| in Zukunft nicht mehr lesen? | |
| Neben den Sätzen, in denen Menschen etwas „trotz Behinderung“ machen, | |
| möchte ich nicht mehr die Darstellung lesen, dass blinde Menschen in der | |
| Dunkelheit leben oder gehörlose Menschen in der Stille. Auch kann ich die | |
| ganzen Floskeln mit „auf Augenhöhe“ und „Barrieren in den Köpfen“ nic… | |
| mehr hören. Es geht nicht nur um die Barrieren in den Köpfen, es geht auch | |
| um die physikalischen Barrieren. | |
| Es gibt immer wieder das Narrativ, dass es darum geht, dass wir die | |
| Mehrheitsgesellschaft sensibilisieren, aufklären müssen. Eigentlich alles, | |
| was die „Aktion Mensch“ macht, alles, was das Bundesministerium für Arbeit | |
| und Soziales macht, bedient dieses Narrativ. Menschen mit Behinderung sagen | |
| aber: Es geht nicht darum, die Mehrheitsgesellschaft darüber aufzuklären, | |
| dass behinderte Menschen auch Menschen sind. Das ist eine | |
| Selbstverständlichkeit. Sondern es geht darum, dass man behinderte Menschen | |
| in die Lage versetzt, ihre Rechte zu erkämpfen und Hürden zu beseitigen. | |
| Wir verstehen erst durch die physikalische Begegnung, dass Menschen mit | |
| Behinderung Teil der Gesellschaft sind. | |
| Wir wissen aus der Vorurteilsforschung, dass davon auch Menschen mit | |
| Migrationshintergrund betroffen sind. Dass die Vorurteile da am größten | |
| sind, wo die reale, physikalische Begegnung am niedrigsten ist. Das heißt, | |
| ich kann noch so viele Werbespots schalten, [6][Broschüren drucken, doch | |
| der Rassismus wird] bleiben. Erst wenn der Erzieher meiner Kinder | |
| Migrationshintergrund hat, verstehe ich, dass das auch ein Mensch ist. | |
| Ähnlich ist das beim Thema Behinderung. Es geht nicht um Aufklärung, es | |
| geht um das Durchsetzen von Rechten. | |
| Melden Sie Redaktionen problematische Darstellungen von Menschen mit | |
| Behinderung zurück? | |
| Ich habe aufgehört, das Internet aufzuräumen. Früher habe ich Redakteure | |
| angeschrieben und gesagt: „Hey, checkt mal eure Sprache.“ Aber da kommst du | |
| ja nicht hinterher. Man muss schauen, ob es größere Strukturen gibt, auf | |
| die man einwirken kann. Etwa Fortbildungen und Seminare für Redaktionen | |
| anbieten oder eben so was wie leidmedien.de etablieren. Ansonsten gilt in | |
| meinen Augen die Leitlinie bei journalistischen Anfragen: Je privater ein | |
| Sender, desto weniger sollte man mitmachen. Private Sender sind in der | |
| Regel immer nur auf die Sensation, das Schicksal und das Leid anderer | |
| Menschen aus und machen selten wirklich investigative und fundierte | |
| Recherchen. | |
| Sie kritisieren, dass Menschen mit Behinderung wegen alltäglichen Dingen | |
| porträtiert und als Held*innen gefeiert werden. Andererseits sind sie in | |
| der medialen Darstellung aber unterrepräsentiert. Was würden Sie sich da | |
| für einen Umgang wünschen? | |
| Also als Überraschungsmoment fände ich es mal schön, wenn Menschen mit | |
| Behinderung bei Straßenumfragen befragt werden würden. Oder etwa mal als | |
| Experten für die Finanzwirtschaft Menschen im Rollstuhl zu Wort kommen. | |
| Menschen, die sich damit auskennen, gibt es definitiv. | |
| Welche Reaktionen begegnen Ihnen auf Ihren Aktivismus? | |
| Eine Menge Hass, vor allem auf Twitter. An meinem Newsletter und den dort | |
| verbreiteten Inhalten sind die Leute interessiert, aber das sind schon | |
| Menschen, die bekehrt sind. Ich lebe da in einer Blase und habe viel | |
| Kontakt mit Menschen, die aufgeklärt sind. Die Frage, die ich mir jetzt | |
| stelle, ist: Wie kann ich Menschen erreichen, die sich noch gar nicht mit | |
| Inklusion beschäftigt haben und das bisher auch nicht wollen? Noch habe ich | |
| darauf keine Antwort gefunden. | |
| 20 Jun 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=R9HK1LT_9Bk | |
| [2] /Journalistinnen-mit-Behinderung/!5660360 | |
| [3] https://leidmedien.de/ | |
| [4] https://www.kika.de/1-2-oder-3/index.html | |
| [5] https://leidmedien.de/statements/lieber-losbinden/ | |
| [6] /Rassismus-in-und-wegen-der-Coronakrise/!5676008 | |
| ## AUTOREN | |
| Linda Gerner | |
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