| # taz.de -- Übertragung von Poesie: Wenn Gebärden zu Gedichten werden | |
| > Taube und hörende KünstlerInnen teilen sich in Berlin die Bühne. Sie | |
| > übertragen Poesie aus Gebärdensprache in Lautsprache und umgekehrt. | |
| Bild: Dana Cermane und Jonathan Savkin performen ein Lautgedicht von Anna Hetzer | |
| Schon beim Anstehen mit Abstand vor der 3G-Kontrolle am Einlass ist die | |
| Atmosphäre spürbar anders als gewohnt: Es ist so schön still. Statt des in | |
| solchen Situationen üblichen Stimmengewirrs, das einem in so einem engen | |
| Treppenhaus wie hier im Berliner Acud auch auf die Nerven gehen könnte, ist | |
| einzig das leise, rhythmisch strukturierte Geraschel einer Steppjacke zu | |
| vernehmen. | |
| Sie gehört dem gebärdenden Mann, der vor mir steht und sich mit seiner | |
| Begleiterin unterhält. Fasziniert lausche ich der Jacke, reiße meinen Blick | |
| aber los von den Gebärden, weil ich mir beim Hingucken vorkomme, als | |
| belauschte ich ein fremdes Gespräch, obwohl ich ja kein Wort verstehe. | |
| Hinter mir stehen zwei Frauen, die ebenfalls eine Unterhaltung in | |
| Gebärdensprache führen. Da sie keine Steppjacken, sondern Wollmäntel | |
| tragen, bleibt ihr Dialog ohne Soundtrack. | |
| Am Einlass dann werden für die Hörenden im Publikum überraschenderweise | |
| Ohrenstöpsel ausgegeben, samt einer Warnung vor „basslastiger Musik“. Der | |
| Musiker Tim Schwerdter wird später im Podiumsgespräch erklären, dass es | |
| darum gegangen sei, die Tonspur physisch spürbar zu machen für die Tauben | |
| PerformerInnen. Der Begriff „Taub“, nunmehr in Großschreibung als Zeichen | |
| der Selbstermächtigung, hat innerhalb ungefähr des letzten Jahrzehnts eine | |
| Rehabilitation erfahren, ausgehend vom im angloamerikanischen Sprachraum | |
| entwickelten kulturellen Konzept der „Deafhood“. | |
| ## Zweifelhafter Terminus | |
| Der hierzulande gut eingeführte Terminus „gehörlos“ hat den Nachteil, dass | |
| er ein Defizit beschreibt. Man könne ihn schon noch weiterhin verwenden, | |
| sagt Franziska Winkler, Leiterin des Projekts „TextKörper – KörperText“, | |
| das in Zusammenarbeit mit der Kreuzberger Lettrétage zustande kam und | |
| dessentwegen wir an diesem Abend im Treppenhaus Schlange stehen. Doch gehe | |
| es darum, das Taubsein als eigene kulturelle Identität wahrzunehmen und | |
| gesellschaftlich anzuerkennen. Deafhood ist nicht defizitär, sondern eben | |
| anders. | |
| „TextKörper – KörperText“ findet als Workshop und Publikumsveranstaltung | |
| schon zum zweiten Mal statt. Es geht in der Veranstaltungsreihe, grob | |
| gesagt, um [1][die Übertragung poetischer Ausdrucksmittel von der Laut- in | |
| die Gebärdensprache] und umgekehrt – und um die Weiterentwicklung der dabei | |
| verwendeten Ausdrucksmittel. | |
| Heute Abend werden die Ergebnisse von fünftägigen Workshops präsentiert, an | |
| denen insgesamt sieben KünstlerInnen teilgenommen haben, vier von ihnen | |
| Taub, drei hörend. Sie habe den Beteiligten völlige Freiheit gelassen, sagt | |
| Franziska Winkler, anders als vor zwei Jahren, als sie zum ersten Mal Taube | |
| und hörende KünstlerInnen zusammenbrachte. Damals habe sie klare | |
| Übersetzungsaufgaben gestellt, es diesmal aber spannender gefunden, zu | |
| sehen, was passiert, wenn Vorgaben ausblieben. – Und tatsächlich sind die | |
| präsentierten Ergebnisse sehr unterschiedlich. | |
| Die KünstlerInnen haben in kleinen Gruppen zu zweit oder zu dritt ihre | |
| Performances erarbeitet. Laura-Levita Valyte zeigt, untermalt und verstärkt | |
| von den ins Mark gehenden elektronischen Sounds, die Tim Schwerdter dazu | |
| kreiert hat, ein ausdrucksstarkes Soloprogramm, das zwischen | |
| Gebärdenerzählung, Fingertheater und Tanz zu changieren scheint. Was dabei | |
| passiert, ist sehr ästhetisch und enorm ereignisreich; aber worin die | |
| Ereignisse genau bestehen, ist schwer zu sagen für eine Person, die keine | |
| Gebärdensprache beherrscht. | |
| Die Übergänge zwischen Gebärden, die klare Bedeutungen tragen, solchen, die | |
| daraus poetische Bewegungszusammenhänge entwickeln, und dann | |
| wahrscheinlich auch noch ganz abstrakten Bewegungsmustern, sind kaum zu | |
| erkennen – selbst dann, wenn gleichzeitig Wörter an die Wand projiziert | |
| werden. Etwas deutlicher wird der Zusammenhang zwischen Wörtern und | |
| Gebärden/Bewegungen bei der Darbietung von Dana Cermane und Jonathan | |
| Savkin, die unter großem physischem Einsatz ein erotisch aufgeladenes | |
| Lautgedicht von Anna Hetzer performen. | |
| Im Vergleich dazu scheint die Performance eines weiteren Duos, zu dem sich | |
| die hörende Tabea Xenia Magyar und der Taube Jan Kress zusammengetan haben, | |
| deutlich abstrakter in Richtung Tanz gedacht zu sein. – Allerdings gibt | |
| Franziska Winkler im Gespräch deutlich zu erkennen, dass der Begriff „Tanz“ | |
| im Deafhood-Kontext nicht wirklich passe: es handele sich um | |
| „Gebärdenpoesie“. | |
| Wie und wo genau die Trennlinie zu ziehen wäre, diese Frage wird beim | |
| anschließenden Podiumsgespräch, das in beide Richtungen gedolmetscht wird, | |
| nicht thematisiert; dafür aber sehr intensiv darüber diskutiert, inwieweit | |
| es wichtig sei, auch von hörendem Publikum verstanden zu werden. Im Laufe | |
| des Workshops, erklären die Beteiligten einigermaßen übereinstimmend, seien | |
| sie zu der Auffassung gekommen, dass das gar nicht unbedingt sein müsse. | |
| Wichtiger sei es, dass mehr Taube PerformerInnen auf die Bühnen kommen – | |
| und zwar mit ihren eigenen Ausdrucksmitteln und ihrer eigenen Kunst. | |
| Und Dana Cermane, die Jüngste in der Runde, die sich als Bloggerin und | |
| Aktivistin sehr für die gesellschaftliche Teilhabe Tauber Menschen | |
| einsetzt, nutzt abschließend das Podium, um eine gute Idee öffentlich zu | |
| machen: Ebenso wie es für Hörende Musikunterricht gebe, solle man an | |
| Gehörlosenschulen Performanceunterricht erteilen. Es habe lange gedauert, | |
| bis die Gebärdensprache wirklich als Sprache gesellschaftlich anerkannt | |
| worden sei. Dieselbe Entwicklung müsse nun auch im künstlerischen Bereich | |
| folgen. | |
| 8 Nov 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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