# taz.de -- Inklusives Theater in Berlin: Gastspielreise zum Mars | |
> Die Zukunft besetzen – das treibt das inklusive Theater Thikwa in Berlin | |
> schon lange an. Ihr 30-jähriges Bestehen feiert das Haus mit „Occupy | |
> Future“. | |
Bild: Lia Massetti, Linda Weißig und Stephan Sauerbier brechen Richtung Zukunf… | |
Man kann Häuser besetzen. Im Theater werden Rollen besetzt. Das schon immer | |
innovative Theater Thikwa besetzt jetzt die Zukunft. So erklärt Gerd | |
Hartmann, seit zehn Jahren gemeinsam mit Nicole Hummel Co-Chef des kleinen | |
Berliner Theaters und seit 30 Jahren bei Thikwa dabei, den Titel des | |
Jubiläumsstücks. | |
„Occupy Future“ beginnt mit dem Bau einer Zeitmaschine. Lautmalerisch, im | |
Stile der HipHopper und BeatBoxer, wird dieser Reiseapparat auf dem | |
Zeitstrahl mit Hammer, Bohrmaschine und Spraydose entwickelt. Sechs Rapper | |
der „Zeit-Gang“, eine Frau und fünf Männer, übernehmen den Job. Der | |
Rhythmus überträgt sich sofort aufs Publikum. Dort wird gewippt und | |
genickt, Oberkörper und Köpfe beugen sich. | |
Bei manchen im Publikum geht das Wippen und Nicken auch ohne Rhythmusgeber | |
von der Bühne weiter. Dann dürfte es sich um Jactatio corporis, ein durch | |
kognitive oder motorische Störungen bedingtes monotones Pendeln des | |
Körpers, handeln. Thikwa ist inklusiv, auf der Bühne wie auch jenseits der | |
Bühne. Das bemerkt man schnell. | |
Die Zukunft, die besetzt wird, ist eine gerechte, eine, die Freiheiten | |
lässt für Entwicklungen. Schlüsselworte wie Freiheit und Gerechtigkeit | |
fallen immer wieder in den einzelnen Szenen. Auch wenn nicht gesprochen | |
wird, wie in der intensiven Tanzszene „Phönix“, so wird doch allein durch | |
den klug von Linda Weißig in eine Choreografie eingebauten Bewegungsdrang | |
das Freiheitsmoment deutlich. | |
## Die Marsianer nicht verdrängen | |
Humor fließt ebenfalls ein. Der [1][Performer Martin Clausen] entwickelt | |
mit drei Thikwa-Darstellern, darunter [2][Thorsten Holzapfel, | |
Thikwa-Spieler der ersten Generation,] eine Talkshow, in der es um eine | |
Gastspielreise zum Mars geht. Lässig erläutert Holzapfel, wie viel | |
Ausgleichstage er laut Regelungen für Tourneen dann haben müsste. Aber auch | |
das Problem des kosmischen Kulturkolonialismus wird diskutiert, denn | |
menschliche Theaterkunst könnte marsianische Performancetechniken | |
verdrängen. Besetzung kann eben Verdrängung bedeuten. | |
Der Ort, den das Theater sich in Berlin-Kreuzberg für seine | |
Zukunftsbesetzung auserkoren hat, ist geschichtsträchtig. Das | |
Ziegelsteinmauerwerk des Areals Ohlauer Straße 41 umhüllte vor mehr als 100 | |
Jahren die erste Desinfectionsanstalt Berlins. Damals wurden hier vor allem | |
Möbelstücke und Kleidung desinfiziert, um die Verbreitung von Krankheiten | |
wie Cholera, Diphtherie oder Tuberkulose einzudämmen. Seit zehn Jahren wird | |
das Gelände für kulturelle Zwecke genutzt, unter anderem hat das Theater | |
Expedition Metropolis hier seine Heimstatt. | |
Jetzt tritt das Thikwa hier auf. Zunächst war es nur eine Notlösung. Größer | |
dimensionierte Open-Air-Projekte etwa auf dem Tempelhofer Feld scheiterten | |
nach Auskunft von Hartmann an der Vielzahl behördlicher Auflagen. Drinnen | |
spielen war angesichts von Corona zumindest für den Sommer keine Option. | |
Zahlreiche Stücke hat das Thikwa während der Pandemie mithilfe eines | |
soliden Hygienekonzepts bereits erprobt und zur Onlinepremiere gebracht. | |
Live vor Publikum spielen ist aber noch etwas anderes als der Livestream | |
vor der Kamera. | |
Das Spielen im kleinen Innenhof und den Grünanlagen der alten | |
Desinfectionsanstalt hat aber auch seinen Charme. Wegen der Begrenzung auf | |
50 Plätze herrscht familiäre Atmosphäre. Der Kreis zu den Anfängen ist | |
geschlossen. | |
Auch der Slogan „Occupy Future“ passt perfekt zur Geschichte des Theaters. | |
Denn das Vorhaben, die Zukunft zu besetzen, kann man rückblickend als | |
Triebkraft von Thikwa bezeichnen. Im fernen Jahr 1990 begann eine Gruppe um | |
Gründerin Christine Vogt, Menschen mit Behinderung aus verschiedenen | |
Werkstätten Berlins um sich zu versammeln und mit ihnen Theaterstücke zu | |
erarbeiten. | |
## Bedeutung von Bewegung und Musik | |
Gleich die erste Produktion [3][„Im Stehen sitzt es sich besser – Kaspar | |
Hauser Resonanz“] sprengte die institutionellen Grenzen. Spieler*innen | |
mit und ohne Einschränkungen traten gemeinsam auf, Spielort war das Studio | |
des Maxim Gorki Theaters. Den Mitschnitt aus dem Jahr 1990 kann man | |
inzwischen auf Vimeo sehen, dank der verstärkten Onlineaktivitäten der | |
Theater im Lockdown. Auffällig ist dort schon die Bedeutung von Bewegung | |
und Musik, das rhythmische Gefüge, in das Körper und Stimmen gebracht | |
werden. Ebenso auffällig die chorischen Momente. Die Vielzahl an | |
Darsteller*innen führt zu gefüllten Bühnenräumen, zu einem Wogen der | |
Körper in einer Kunstform, die aufgrund von Einsparungen auf immer kleiner | |
werdenden Ensembles zurückgreifen muss. | |
Das Thikwa hingegen kann zumindest personell aus dem Vollen schöpfen. | |
Dreiundvierzig Ensemble-Mitglieder sind am Thikwa beschäftigt. Spielen und | |
proben sie nicht, arbeiten sie in den künstlerischen Werkstätten. Die haben | |
inzwischen einen eigenen Ruf. Thorsten Holzapfel, Performer auch bei | |
„Occupy Future“, holte Preise für seine bildnerischen Arbeiten. | |
Die Werkstätten schaffen finanzielle und organisatorische Sicherheit für | |
das Ensemble. „Im Alltag ist die Zusammenarbeit zwischen dem Theater und | |
dem Regelbetrieb Werkstatt aber nicht immer einfach“, sagt Co-Chefin Hummel | |
der taz. Dass Darsteller*innen mit körperlichen Einschränkungen | |
komplett von ihrer künstlerischen Arbeit leben können, ist gegenwärtig sehr | |
selten. In Einzelfällen wurden sie in städtische Ensembles verpflichtet. | |
Für 43 Künstler*innen ist dies aber nicht zu stemmen. Deshalb ist die | |
Konstruktion aus Theater und Werkstatt dann eben doch ein gutes Fundament. | |
Für das Thikwa hat sich in den 30 Jahren seines Bestehens vor allem die | |
Akzeptanz von inklusivem Theater geändert. „Früher mussten wir bei | |
Kooperationspartnern anfragen. Jetzt fragen die großen Theater uns“, sagt | |
Hartmann. | |
## Ungewohnte Realitäten | |
Verantwortlich dafür ist auch die ästhetische Qualität des Thikwa. Die | |
Produktionen dringen in Fantasieräume vor und kreieren ungewohnte | |
Realitäten. Hartmann ist selbst immer wieder erstaunt, wie schnell die | |
Darsteller*innen auf den Proben Stücke entwerfen. „Bei der allerersten | |
Probe zu unserem Beitrag beim Festival [4][‚Berlin is not am Ring‘] am | |
kommenden Wochenende in der Fahrbereitschaft Lichtenberg sind bereits 50 | |
Prozent der ganzen Szene entstanden“, erzählt Hartmann. | |
Sind Darsteller*innen mit Behinderung gar die talentierteren | |
Künstler*innen, weil sie sich möglicherweise mehr trauen? „Nein, es gibt | |
keinen heiligen Behinderten“, winkt Hartmann lachend ab. Aber in neue, | |
andere, faszinierende Fantasieräume werde man durch sie doch geführt, meint | |
der Regisseur. | |
Die Arbeit des Thikwa wird mittlerweile auch im Ausland geschätzt. In | |
Russland erhielt die Produktion „Entfernte Nähe“, die Hartmann mit einem | |
Ensemble russischer Darsteller*innen mit Behinderung entwickelte, den | |
Theater-Oscar „Goldene Maske“. Durch den Impuls des Thikwa erhielt auch das | |
inklusive Theater in Russland insgesamt einen Schub. „Man bemerkt den | |
Bewusstseinswandel schon an Kleinigkeiten. Bei einem frühen Gastspiel in | |
Sankt Petersburg rümpften dortige Schauspieler noch die Nase, als unsere | |
Thikwas dort auf der großen Bühne auftraten. Und am Flughafen wurden wir | |
gefragt, wo wir mit ‚unseren Kindern‘ denn hinwollen. Inzwischen werden | |
unsere Spieler*innen als Menschen und als Künstler*innen ernst | |
genommen“, erzählt Hummel. | |
Die Reiseerfahrungen nicht nur in Russland flossen dann auch ein in den | |
fiktionalen Gastspieltrip auf den Mars in „Occupy Future“. Mal sehen, was | |
die Zukunft noch so bereithält für dieses ungewöhnliche Theater. | |
17 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!5720243&s=Martin+Clausen&SuchRahmen=Print/ | |
[2] /Archiv-Suche/!1372259&s=Thorsten+Holzapfel&SuchRahmen=Print/ | |
[3] https://vimeo.com/401483964 | |
[4] https://www.glanzundkrawall.de/event/berlin-is-not-am-ring/ | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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