# taz.de -- Gentrifizierung in Berlin: Flacher wohnen, enger arbeiten | |
> Maximilian Klinge macht seit Jahrzehnten Kunst in Kreuzberg. Doch nun | |
> soll er raus aus seinem Atelier. Die Besitzerin will ihn verdrängen. | |
Bild: Maximilian Klinge in seinem Atelier in Kreuzberg | |
An der Wand seines halb leer geräumten Ateliers hängen ein paar platt | |
gedrückte Käfige, wie man sie zur Haltung von Hamstern, Kanarienvögeln oder | |
Wellensittichen benutzt. [1][Maximilian Klinge], der in seinem rohen, aber | |
charmanten Raum seit über 30 Jahren Kunst und Grabmale macht, hat diese | |
Käfig-Skulpturen, die vor etwa 20 Jahren entstanden sind, „Flacher Wohnen“ | |
genannt. | |
Es ist, als hätte er schon damals geahnt, was auf ihn – wie auf viele | |
Künstler*innen in dieser Stadt – zukommen wird. Zwar wird der 58-jährige | |
Bildhauer und Maler nicht flacher wohnen müssen, aber vielleicht bald enger | |
arbeiten. Nach zwei Verlängerungen soll er zum 30. Juni aus den so | |
genannten Mühlenhaupthöfen im Kreuzberger Chamissokiez ausziehen. Die | |
Begründung der Kündigung: Der Raum wird für das [2][Kurt Mühlenhaupt | |
Museum] gebraucht. | |
2019 brachte Hannelore Mühlenhaupt, die Frau des 2006 verstorbenen Berliner | |
Malers Kurt Mühlenhaupt, das Museum von Bergdorf in Brandenburg nach | |
Kreuzberg. Mühlenhaupt hatte die 2.600 Quadratmeter großen Höfe kurz vor | |
der Wende gekauft. „Damals war das Ensemble heruntergekommen“, berichtet | |
Klinge. | |
Heute wirken die Backsteingebäude, vor denen zahlreiche Blumentöpfe stehen | |
und an denen schöne Rosen ranken, wie die gelungene Kulisse eines Films | |
über die wilde Westberliner Boheme der Nachwendezeit, in der das Leben noch | |
wenig kostete. Noch immer befinden sich hier ein Puppenspieltheater, | |
Künstlerateliers und das [3][Theater Thikwa], ein Theater, in dem seit 1990 | |
Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Theater und Kunst machen. | |
## Der erste, der sich wehrt | |
Doch wegen der Erweiterung des Museums mussten laut Klinge bereits einige | |
Künstler:innen ausziehen. Klinge ist der erste, der sich gegen die | |
Kündigung wehrt. Er hat die Unterstützung des Atelierbeauftragten im | |
Kulturwerk des [4][Berufsverbands Bildender Künstler*innen Berlin] | |
(bbk), Martin Schwegmann, der immer wieder auf die prekärer werdende Lage | |
der Berliner Künstler*innen und den wachsenden Verdrängungsdruck | |
hinweist, dem diese ausgesetzt sind. | |
Ende Mai hat sich Klinge an Katrin Schmidberger gewandt, Sprecherin für | |
Wohnen und Mieten der Grünen im Abgeordnetenhaus. „Wir entmieteten Künstler | |
sind ohne bezahlbare Arbeitsräume in unserer Existenz fundamental bedroht“, | |
heißt es in der von vier Künstler:innen unterzeichneten E-Mail, darunter | |
Klinge. Auch Friedrichshain-Kreuzbergs Baustadtrat Florian Schmidt (Grüne) | |
und den Senator für Finanzen Daniel Wesener (Grüne) hat Klinge gebeten, die | |
Atelierräume und Werkstätten in den Mühlenhaupthöfen zu erhalten. | |
Beim Grundbuchamt hat der Künstler Auszüge aus dem Kaufvertrag eingesehen, | |
die der taz vorliegen. Darin räumt der Käufer dem Land Berlin ein | |
„jederzeitiges Ankaufsrecht ein“, und zwar für den Fall, „dass das | |
Betreiben des Gewerbehofes für Mode, Kunst und Handwerk eingestellt“ wird. | |
Wesener bezweifelt gegenüber der taz, dass die „öffentliche Hand bei einem | |
so alten Vertrag noch einen Fuß in die Tür bekommt“, versichert aber, man | |
werde sich den Fall ansehen. Auch in der Kulturverwaltung schätzt man den | |
Fall als interessant ein. „Allerdings stellt sich die Frage, ob die | |
Erweiterung des Museums nicht ebenfalls unter Kunst fällt“, so | |
Pressesprecher Daniel Bartsch zur taz. | |
## Berliner Mischung in Gefahr | |
Klinge ist der Ansicht, dass nicht nur sein Atelier, sondern die hier | |
erhaltene und „selten gewordene Berliner Mischung aus Kunstproduktion und | |
Handwerk“ in Gefahr sei. Tatsächlich ist er nicht der Einzige, der über den | |
permanenten Verdrängungsdruck und die hohe Fluktuation klagt, den Hannelore | |
Mühlenhaupt verursache. | |
Für die taz ist Mühlenhaupt selbst allerdings nicht zu sprechen. Die | |
künstlerische Leiterin des Mühlenhaupt Museums Christina Schulz hingegen | |
schon. Sie schwärmt von der so kooperativen wie „kreativen Atmosphäre“ auf | |
dem Hof und bemängelt, dass Klinge nie Frau Mühlenhaupt habe sprechen | |
wollen. Auf die Gegenfrage, warum Frau Mühlenhaupt nicht auf ihren | |
langjährigen Mieter zugegangen sei, weiß sie nichts zu sagen. Sie weicht | |
auch der Frage aus, wie viele Künstler*innen bislang gehen mussten. | |
Hannelore Mühlenhaupt hat gegenüber anderen Medien behauptet, man habe | |
Klinge gekündigt, weil andere Mieter wie das Theater Thikwa zu kündigen | |
nicht in Frage gekommen sei. Doch das Theater weiß anderes zu berichten. | |
„Frau Mühlenhaupt wollte uns weghaben und hat uns mehrfach gekündigt“, so | |
berichtet Geschäftsführer Herbert Jordan der taz. Erst nachdem man in die | |
Auseinandersetzung gegangen sei und viele Monate gekämpft habe, sei der | |
Mietvertrag bis 2032 ausgehandelt worden. Allerdings habe sich die Miete | |
fast verdoppelt, man habe auf Räume verzichten und auf eigene Kosten andere | |
Räume tauschen müssen. | |
Zuletzt hat Maximilian Klinge noch 7 Euro pro Quadratmeter für sein Atelier | |
gezahlt. Auch, wenn er die Atmosphäre in den Höfen inzwischen als | |
„vergiftet“ bezeichnet: In ähnlich zentraler Lage etwas vergleichbar | |
Günstiges zu finden dürfte derzeit in etwa so wahrscheinlich sein wie sechs | |
Richtige plus Superzahl. Nach wie vor gibt es in Deutschland keinen | |
wirksamen Schutz für Gewerbemieter*innen. | |
## Prekäre Kunst | |
Daran haben auch andere Berliner Künstler*innen nicht erst seit Corona | |
schwer zu knapsen. Laut aktuellem Weißbuch Atelierförderung, das der bbk | |
letztes Jahr herausgebracht hat, verdienen bildende Künstler*innen im | |
Schnitt 1.163 Euro im Monat. 2020 ist das Einkommen von 85 Prozent der | |
Befragten im Vergleich zu 2007 sogar noch gesunken. | |
Sie können sich die Gewerbemieten in Berlin schon lang nicht mehr leisten. | |
Darum wiegt es um so schwerer, dass die Berliner Kulturverwaltung bis Ende | |
2021 lediglich 282 neue Ateliers geschaffen hat. Das sind gerade mal 14 | |
Prozent der 2.000 neuen Ateliers, die nötig gewesen wären, um nur einem | |
Drittel der 8.500 in Berlin arbeitenden bildenden Künstler*innen | |
gesicherte Arbeitsräume anbieten zu können, so das Weißbuch. | |
Die Geschichte von Maximilian Klinge ist nicht nur die eines Künstlers, dem | |
es wie vielen anderen geht. „Jeder Raum zählt“, so der Atelierbeauftragte | |
des bbk, Martin Schwegmann. | |
29 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] http://maximilianklinge-grabmale.de/startseite/ | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_M%C3%BChlenhaupt_Museum | |
[3] https://www.thikwa.de/ | |
[4] https://www.bbk-berlin.de/berufsverband-bildender-kuenstler_innen-berlin | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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