# taz.de -- „Die Tüten aus der Verwaltung“: Leben für die Kaffeepause | |
> Deutsche Bürokratie wird zum Musical. Die Musiktheatercombo glanz&krawall | |
> nimmt am inklusiven Theater Thikwa „Die Tüten aus der Verwaltung“ aufs | |
> Korn. | |
Bild: Auch die Kaffeetassen der SchreibtischtäterInnen sind in „Die Tüten a… | |
„Wer hat schon mal schlechte Erfahrung mit der Verwaltung gemacht? Mal kurz | |
melden“, ruft Clara Fall (Yasmina Hempel) ins Publikum. Die Stimmung ist | |
gut im Theater Thikwa beim Bürokratie-Musical. Alle kriegen ihr Fett ab. | |
Aber auf so charmante Weise, dass man jeden Moment genießt. Jedes Lied ist | |
ein potenzieller Ohrwurm und die fünf Beamtinnen-Darstellerinnen und ihr | |
Chef sind zum Reinlegen in ihrer Aufrichtigkeit. | |
Fünf Minuten lang wird das Musical zum Dokumentartheater. Im Publikum | |
recken sich die Hände. Menschen haben ewig im Bürgeramt gewartet, jemandem | |
wurde der deutsche Pass verweigert. Auf der Bühne melden sich die | |
DarstellerInnen als ExpertInnen des Alltags zu Wort. | |
Yasmina Hempel erzählt von einem Freund, „dessen Betreuer ungerechte Sachen | |
über ihn geschrieben hat. Die Meinung des Betreuers zählte beim Amt viel | |
mehr. Mein Freund wurde kaum gehört. Es hat also einfach jemand über sein | |
Leben geurteilt und er konnte gar nichts dagegen machen. Das hat ihn völlig | |
fertig gemacht.“ Hier bekommt das Publikum, dessen überwiegender Teil ohne | |
eine von den Behörden verwaltete Einschränkung durchs Leben geht, eine | |
Ahnung, in welchem Ausmaß dieser Teil unserer Gesellschaft von den | |
Entscheidungen der Behörden abhängig ist. | |
„Die Tüten aus der Verwaltung“ schaut sich die Spezies der | |
Schreibtisch-BeamtInnen genauer an. Herausgekommen ist eine empathische | |
Karikatur anhand einer Berliner Mini-Behördenzelle mit einem Chef und fünf | |
weiblichen Untergebenen. Ein zweiter Erzählstrang des Musicals beleuchtet | |
die Entstehungsgeschichte von Verwaltung in Deutschland. Und es setzt sich | |
mit der Rolle von Verwaltung in der jüngeren deutschen Geschichte | |
auseinander und mit den Menschen, die dort Systemträger waren. | |
Es klingt wie am Grips | |
Es sind eingängige und gleichzeitig kluge Texte, die von der | |
Thikwa-Live-Band begleitet werden. [1][Die Musiktheatercombo glanz&krawall] | |
hat sich die Musical-Komponistin Sarah Taylor Ellis für ihre erste Arbeit | |
am inklusiven Kreuzberger Theater ins Boot geholt. Ellis hat einen Sound | |
kreiert, der in Grips-Theater-gewohnten Ohren die Erinnerung an dortige | |
Musical-Sternstunden auferstehen lässt. Die Komponistin sitzt selbst am | |
Keyboard und heizt ein. Daneben sind die Drums der wichtigste | |
Rythmus-Generator. | |
Alles ist eine Nummer zu groß für die fünf Behördenhengstinnen und | |
Christian Wollert, den Boss. Denn bis auf die 08/15-Bürostühle ist alles | |
XXXXL. (Ausstattung: Raissa Kankelfitz) So rackert sich das Ensemble auf | |
einer bühnenfüllenden Computer-Tastatur an einem Behördenbrief ab. | |
Lola Fuchs alias Rebecca Ruthless ist die Neue im Team und hat am meisten | |
zu tun. Sie betätigt das Leerzeichen und das ist ein in die Tastatur | |
integriertes Trampolin. Der Brief, der mit vereinten Kräften aus dem | |
Papp-Drucker gezogen wird, sprengt jegliche DIN-Norm und der Kugelschreiber | |
überragt das Ensemble um zwei Hauptlängen. Und doch ist unser | |
Verwaltungs-Team von Überforderung weit entfernt. Die beste | |
Kurzzeit-Exit-Strategie sind die ständigen Raucher- und Kaffeepausen. | |
Dennis Depta und Marielle Sterra von glanz&krawall lassen das Bild vom | |
Beamten zwischen berufsfaulem Staatsdiener und dem Menschen, dessen | |
Lebensinhalt der Staatsdienst ist, fröhlich oszillieren. Witzig und | |
gleichzeitig ernsthaft wird dabei die Machtposition thematisiert, die | |
Menschen in Behörden haben. | |
Schreddert die Verwaltung! | |
Rebecca Ruthless, die eigentlich für einen neoliberalen Thinktank arbeitet, | |
peitscht das Publikum auf: Verwaltung schreddern! Und dann kommen Chrissi | |
Hilkens und Lola Fuchs als Christian Lindner und Friedrich Merz mit | |
riesigen Papiermasken auf die Bühne. Beide wollen die Verwaltung abschaffen | |
und fangen Sabine Drängler (Jasmin Lutze) mit dem Kescher ein. Jetzt zeigt | |
sich die Energie ihrer Kolleginnen. Sie wird befreit und Lindner verliert | |
das Duell gegen Boss. Alle im Saal sitzen jetzt in einem Boot. | |
Jutta Heinzelmann alias Chrissi Hilkens denkt nach: „Ich kann ja schlecht | |
allein die Ämter revolutionieren, das Patriachat bekämpfen und dann noch | |
zweimal pro Woche zum Step-Airobic.“ Was sofort ginge, wird zum Refrain des | |
letzten Liedes: „Wir sind hier, um uns zu entschuldigen und wir reichen | |
euch die Hand.“ Jasmin Lutze konstatiert: „So wie die Verwaltung in | |
Deutschland aktuell funktioniert, produziert sie für einige von uns ständig | |
Würdeverletzungen. Das wäre vermeidbar. Zum Beispiel im Jobcenter.“ | |
Andrea Nahles, nehmen Sie sich 100 Minuten Qualitiy-Time für Ihre | |
KlientInnen. Kommen Sie ins Theater Thikwa. | |
15 Dec 2024 | |
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[1] /Glanz-und-Krawall-in-Karlshorst/!5953075 | |
## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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