# taz.de -- Inklusives Theaterfestival „Mittenmang“: Die Rettung der Schei�… | |
> In Bremen hat das inklusive Theaterfestival „Mittenmang“ begonnen. Zum | |
> Auftakt stiften Schelhas CoOperation einen feministischen Mythos. | |
Bild: Ohne kommt kein Mythos aus: Orakel mit zweifelhaften Absichten | |
Ein bisschen anmaßend ist es ja schon, noch heute Abend einen neuen Mythos | |
stiften und damit die Welt retten zu wollen. Andererseits: Wo sollte so was | |
schon gelingen, wenn nicht hier? Es ist Theaterfestival – und zwar nicht | |
irgendeines, sondern [1][„Mittenmang“], das sich der Inklusion verschrieben | |
hat in einer Sphäre, die schon im Durchschnittsbetrieb hart an der Kante | |
arbeitet – so von wegen Geld, Anerkennung und Selbstausbeutung. Zum Auftakt | |
am Mittwoch begaben sich nun drei (echte) Schwestern auf eine (fiktionale) | |
Heldinnenreise: „Der Mythos beginnt! Ein Schwesternprojekt“ der | |
[2][Künstlerinnengruppe Schelhas CoOperation]. | |
Und das war außerordentlich schön. Schon fürs Auge, weil Bühnen- und | |
Kostümbildnerin Larissa Jenne die Schelhas-Schwestern Elisabeth, Christina | |
und Theresa in stylische Trashklamotten gesteckt hat: mit Fransen, Knie- | |
und Schulterschutz – und so einer schwer zu fassenden | |
80er-Jahre-Glam-Power, die einen die ganze Zeit nach E-Gitarren und | |
Rollschuhen suchen lässt, obwohl beide nicht vorkommen im Stück. Einfacher | |
zu beschreiben ist die Geschichte: Vor circa 2.000 Jahren kam den Göttinnen | |
der goldene Stift abhanden, mit dem sie sonst Geschichte und Wirklichkeit | |
schreiben. Weil mit der Welt alles schiefläuft, seit er „in die falschen | |
Hände“ geriet, werden drei Heldinnen ausgesandt, ihn wieder zurückzuholen. | |
Dass der weitere Verlauf zwar vorhersehbar ist und sich dennoch extrem | |
richtig und gewichtig anfühlt, ist das eigentliche Kunststück der | |
Produktion. Heldin Elisabeth kommt nämlich auf die Idee, nicht groß aufs | |
Schicksal zu warten, sondern einfach selbstbestimmt auf die schematische | |
„Heldinnenreise“ zu gehen, von der sie in ihrem Kulturwissenschaftsstudium | |
gehört hat. Die Rede ist vom Monomythos, wie ihn Ende der 1940er-Jahre etwa | |
[3][Joseph Campbell aufgeschrieben] hat: eine Sammlung von Archetypen, | |
Motiven und ganzen Handlungsabläufen, wie sie so oder so ähnlich in | |
praktisch allen Kulturkreisen der Welt erzählt wurden. | |
Vielleicht kommt Ihnen das ja auch bekannt vor: Ein Held wird berufen, geht | |
los, verweigert sich irgendwann kurz, wird verraten, dafür aber von einer | |
dubiosen Vaterfigur wieder aufgepeppelt, auf die Probe gestellt und am Ende | |
belohnt. Garniert wird das Spektakel mit allerlei Monstern und | |
Angstbildern, an denen Psychoanalytiker:innen ihre hellste (oder | |
auch dunkelste) Freude haben. | |
## Ästhetik plus Lebenswelt | |
Bis hierhin könnte man also sagen: Schelhas CoOperation erzählen die | |
abgedroschenste Geschichte der Welt zum wohl milliardsten Mal. Das ist zwar | |
Quatsch, aber es lohnt trotzdem, den Gedanken einen Moment festzuhalten. | |
Weil modernes Theater sonst ja wirklich heftige Probleme damit hat, | |
stringente Geschichten zu erzählen, die auch außerhalb der Bubble irgendwen | |
interessieren. Das Mittenmang-Festival (und die inklusiven Künste im | |
Ganzen) können hingegen zuverlässig damit auftrumpfen, ihrerseits zwar auch | |
ästhetische und dramaturgische Grenzen auszuloten – dabei aber eine | |
Lebensweltlichkeit an den Tag zu legen, wie sie sonst selten ist. | |
Das ist nicht zufällig so und auch nicht erst seit diesem Jahr. Mit seiner | |
inzwischen vierten Ausgabe setzt das zweijährliche Mittenmang-Festival | |
seinen bewährten Kurs fort, künstlerischen Anspruch und | |
gesellschaftspolitische Agenda nahtlos zu verzahnen. Geleitet wird das | |
Festival von Andreas Meder, der wiederum in enger Zusammenarbeit mit dem | |
Bremer Theater und dem [4][inklusiven Blaumeier Atelier] für die | |
Lebenshilfe gGmbH Kunst und Kultur aus Mainz arbeitet. | |
Wichtig ist das, weil hier Mitte der 1990er-Jahre so was wie die Keimzelle | |
inklusiver Theaterfestivals in Deutschland entstand. [5][„Grenzenlos | |
Kultur“] ist damals vom Experiment zur bleibenden Institution geworden – | |
und schließlich als Vorbild für bundesweit immer neue inklusive Festivals | |
und Veranstaltungsformate exportiert worden. | |
Das Erfolgsmodell ist auch deshalb eins, weil Theater von Menschen mit | |
Behinderung ganz automatisch Fragen aufwirft und zuspitzt, die | |
Theaterbetrieb und Gesellschaft im Ganzen betreffen: die nach Möglichkeiten | |
von Teilhabe etwa, nach Normierung und Diversität, nach authentischem | |
Auftritt und dem permanenten Zwang, einer zugewiesenen Rolle unbedingt | |
gerecht zu werden und sie dennoch zu hinterfragen. | |
## Star Wars, Buffy & Nintendo | |
Zurück zur Heldinnenreise. Die ist nämlich mitnichten der x-te Aufguss, | |
sondern deren nächste Reflexionsstufe. Natürlich weiß nicht nur Elisabeth | |
Schelhas („Ich bin ja Kulturwissenschaftlerin“), dass Campbells Monomythos | |
nicht nur literarische und psychologische Motive durchsortiert, sondern | |
längst auch als Blaupause für Pop und Kulturindustrie herhält. Über George | |
Lucas geht etwa die Legende um, er habe bei „Star Wars“ kaum mehr gemacht, | |
als Campbells Schablone mit campy Weltraumzeug auszustaffieren. | |
Und es ist sicher kein Zufall, dass Schelhas CoOperation den Auftakt ihres | |
Stücks nun mit dem „Star Wars“-Titelthema aus dem Lautsprecher untermalen. | |
Folgt man dieser musikalischen Spur weiter, bezeugt wenig später auch ein | |
hübscher Remix des Titelsongs von „Buffy the Vampire Slayer“, worum es hier | |
geht. Buffy ist nämlich nicht nur die Lieblingsserie poplinker | |
Theorieproduktion, sondern auch eine der klügsten und weitreichendsten | |
Demontagen erst maskuliner und dann grundsätzlich aller einzelkämpferischen | |
Heldenfiguren. | |
Bevor es hier nun aber weiter um irgendwelches Nerdwissen gehen soll, wie | |
zum Beispiel die Frage, aus welchem Teil von Nintendos Videospielserie | |
„Zelda“ die Schelhas-Schwestern ihre Reisemusik geklaut haben (es ist der | |
dritte und beste: „A Link to the Past“), wollen Sie sicher viel dringender | |
wissen, was das alles mit Behinderung zu tun hat. Und das ist tatsächlich | |
eine schwierige Frage. | |
## Normalität als Endgegner | |
Theresa Schelhas, die jüngste der drei Schwestern, hat Downsyndrom. Die in | |
Videoeinspielern vor mandalamäßig-esoterischen Animationen auftretenden | |
Göttinnen auch – das ist übrigens ein Gastauftritt der Gruppe „Meine Damen | |
und Herren“ aus Hamburg. Und die Diagnose spielt auch inhaltlich eine | |
Rolle, als ein Orakel den Heldinnen nicht nur in Sachen ritterliche | |
Heldenreise weiterhilft, sondern ihnen nebenbei auch erzählt, was die je | |
anderen beiden Schwestern über sie denken. | |
Da ist „Du stellst deine Behinderung immer in den Mittelpunkt“ schon ein | |
harter Satz. Später wird der noch in Gestalt eines mehrköpfigen grünen | |
Monsters zurückkehren – und von Theresa Schelhas mustergültig | |
zusammengeschlagen. Andererseits stecken die anderen Schwestern aber auch | |
nicht weniger ein, wenn etwa der Bösewicht sich am Ende über „zwei | |
kinderlose Weiber und eine Behinderte“ amüsiert. | |
Schließlich schlagen wir alle uns immer wieder mit Dingen herum, die uns | |
irgendein Vollarsch als Unzulänglichkeit verkaufen will, obwohl sie gar | |
keine sein müssten. Und darum geht es wohl. Und darum, dass längst nicht | |
alles Okay ist, nur weil jemand „Inklusion“ draufgeschrieben hat. Das macht | |
im Stück selbst der Endgegner, als er den Schwestern die Rechte an ihrer | |
Geschichte abkaufen will. Und damit wären wir wieder ganz am Anfang von | |
Welt und Festival, bei der ersten Station von Tausenden Jahren Heldenreise: | |
dem Unbehagen mit einer Welt, die dringend anders werden muss. | |
9 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.mittenmang-festival.de/ | |
[2] https://schelhascooperation.de/ | |
[3] https://www.suhrkamp.de/buch/joseph-campbell-der-heros-in-tausend-gestalten… | |
[4] https://www.blaumeier.de/ | |
[5] https://www.grenzenlos-kultur.de/ | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
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