# taz.de -- Neues Buch über das Blaumeier-Atelier: Im Bremer Abendwind | |
> Mit einem neuen Buch stellt das Bremer Blaumeier-Atelier 22 seiner | |
> Künstler:innen mit und ohne Behinderung in Wort und Bild persönlich vor. | |
Bild: Weil Uwe sein ganzes Leben unter zu viel Druck stand, ist er heute „Ent… | |
Bremen taz | Kennen Sie Blaumeier? Ganz bestimmt, wenn Sie aus Bremen | |
kommen. Aber auch sonst stehen die Chancen ganz gut: vielleicht wegen des | |
preisgekrönten [1][Films „Verrückt nach Paris“] oder dank eines der ander… | |
internationalen Projekte des [2][inklusiven Theater- und Kunstateliers]. | |
Nur ist das mit dem Kennen so eine Sache, weil die Blaumeier es ernst | |
meinen mit der Kunst und uns all die Menschen mit und ohne Behinderung | |
tatsächlich als Künstler:innen und Kunstfiguren begegnen. | |
Und das gerät leicht in Vergessenheit über die Intimität der Produktionen – | |
und weil die Fragen, wer hier eigentlich was spielt, was verrückt heißt, | |
was Schauspiel, und was einfach so zum Leben gehört, selten so verworren | |
und zugleich entscheidend sind wie bei Blaumeier. | |
Mit dem neuen Buch, [3][„Blaumeier oder der Möglichkeitssinn“], verhält es | |
sich etwas anders. Porträts stellen 22 der rund 250 Personen aus dem | |
Atelier als Menschen vor. Schriftstellerin Jutta Reichelt hat die meisten | |
davon geschrieben und zusammen mit Blaumeiers – unter Leitung von Franziska | |
von den Driesch und Wiebke Emmerich neu gegründeter – Fotogruppe zum Buch | |
verdichtet. Die Bilder werden derzeit auch in einer begleitenden | |
Ausstellung im Bremer Rathaus ausgestellt. | |
Über zwei Jahre haben Autorin und Fotograf:innen sich mit den Porträtierten | |
getroffen und gemeinsam nach Geschichten und Motiven gesucht. „Wir dachten | |
ja erst, wir machen echte Porträts“, sagt Reichelt, was bei Blaumeier nicht | |
so ganz einfach ist. Heute spricht sie von „literarischen Reaktionen auf | |
die Begegnungen“. Manchmal erzählt sie Lebenswege nach, öfter entwirft sie | |
im Zusammenspiel mit den Fotos Momentaufnahmen. | |
Da ist zum Beispiel Uwe Grossmann, Theaterspieler bei den „Blaudrians“, auf | |
seinem Fahrrad: Selbst die bewegungsunscharfe SchwarzWeiß-Fotografie verrät | |
eine extreme Entschlossenheit im Blick des behelmten Mannes; schwer zu | |
fassen zwischen leichter Verkrampfung und ungeheurer Dynamik. | |
Überblickshaft skizziert der Text, wie der Mensch auf dem Bild krank | |
geworden ist. Vom Druck zweier Ausbildungen nämlich, dem Fachabi, der Uni, | |
den Prüfungen. | |
„Es war das falsche Leben“, schreibt Reichelt, und dass die Schmerzen | |
Grossmann auch heute noch in den Gliedern steckten. Eine andere Aufnahme | |
zeigt den Schauspieler am Werdersee auf einem zwar deplatziert, aber doch | |
gemütlich wirkenden Bürostuhl zwischen den Büschen. Es ist schön zu lesen, | |
wie Reichelt schreibt, dass aus Grossmann über die Arbeit am Stress | |
inzwischen „ein Entspannungs-Experte“ geworden ist. | |
Das ist ein kurzer Einblick in ein Leben, der wie von selbst aus einer | |
flüchtigen Begegnung zwischen Autorin und Fahrradfahrer erwacht. | |
Einfühlsam, frei von Bevormundung und übrigens auch höchst unterhaltsam | |
versammelt das Buch 22 solcher Suchbewegungen, die ganz nebenher Blaumeier | |
auch als Institution vorstellen, mit seiner inzwischen immerhin fast 35 | |
Jahre langen, längst nicht immer gradlinig verlaufenden Geschichte. | |
Die Anfänge finden sich im Porträt Bernd Dabows wieder, der schon sehr | |
lange dabei ist und zu Blaumeier kam, als allen noch die psychiatrische | |
Verwahranstalt [4][Kloster Blankenburg] in den Knochen steckte. Im Zuge der | |
Psychiatriereform waren die Menschen aus dem Elend befreit worden – und in | |
noch zu (er)findende Betreuungsstrukturen und Lebensformen entlassen. Dabow | |
kam als Fahrer und Betreuer zu Blaumeier – und wurde Schauspieler, weil es | |
da keine reinen Zuschauer:innen gab. | |
Ein weiterer Teil der großen Geschichte blitzt im Porträt Ulrike Bauers aus | |
dem Maskenensemble auf, die beim Erzählen ihres Wegs zu Blaumeier die | |
aufsehenerregenden Großprojekte von damals vermisst. Statt alle | |
durcheinander arbeiten die verschiedenen Sparten heute nämlich etwas | |
geordneter an je eigenständigen Projekten, womit allerdings nicht alle nur | |
glücklich sind. | |
Auch dem Autor in lebhafter Erinnerung geblieben ist etwa das | |
„Elfenbeinander“ von 1998: ein Shakespeare’scher Sommernachtstraum im | |
Bürgerpark, wo auf verschlungenen Pfaden überhaupt erst mal zu suchen war: | |
nach der Bühne selbst. Zwischen Kleinstkonzerten, Großpuppen und | |
ausgestellter Malerei schlichen von der Maskenwerkstatt urgewaltig | |
ausstaffierte Satyrn keckernd durch die Dunkelheit. Das war ein Feuerwerk | |
der Bildebenen und explodierender Repräsentationsfragen, während Feen mit | |
und ohne psychische Diagnosen jauchzend auf Efeu-Schaukeln durch den Bremer | |
Abendwind rauschten. | |
## Profis mit Downsyndrom sind nicht vorgesehen | |
Wo die Inklusion heute steht, wird am deutlichsten wohl im Porträt von | |
Aladin, einem der bekanntesten Blaumeiern. „Aladin ist Profi“ heißt der | |
Text und handelt eben davon, wie ein diszipliniert und professionell | |
arbeitender Künstler immer wieder auf sein Downsyndrom zurückgeworfen wird. | |
Nicht weil er krank wäre, sondern weil auch am Theater nicht vorgesehen | |
ist, dass Menschen mit Behinderung regulär beschäftigt werden. Oder weil | |
sie noch immer viel zu selten engagiert werden, selbst wenn es um Rollen | |
mit Behinderung geht. | |
Die wirkliche literarische Qualität von Jutta Reichelts Texten ist es, | |
Gesellschaft und Person zusammenzuerzählen – und dabei auch ihr eigenes | |
Ringen um die Geschichte offen zu verhandeln: zu suchen eben. So wie es | |
auch die Fotos tun, die mal klassisch porträtierend Mimik nach | |
Lebensgeschichten befragen – dann wieder verträumt oder grübelnd durch | |
Wohnungen, Arbeitsplätze und den öffentlichen Raum schweifen. | |
Den Kurzschluss, irgendwo bei einer runden und widerspruchsfreien Biografie | |
oder gar Krankengeschichte anzulanden, vermeidet das Buch konsequent – und | |
nährt so, Seite für Seite, die sehr berechtigten Zweifel daran, dass es so | |
was überhaupt gibt. | |
29 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Verr%C3%BCckt_nach_Paris | |
[2] https://www.blaumeier.de/ | |
[3] https://www.blaumeier.de/?we_objectID=1315 | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Kloster_Blankenburg | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
## TAGS | |
Inklusion | |
Kunst | |
Theater | |
Bremen | |
Buch | |
Behindertenwerkstatt | |
Theater | |
Theater | |
Bremen | |
Kunst | |
Inklusion | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Theater über Behindertenwerkstätten: Arbeit, immer Arbeit | |
Das Bremer Blaumeier-Atelier beforscht Arbeitsbedingungen in | |
Behindertenwerkstätten – und macht dabei auch vor dem eigenen Betrieb nicht | |
Halt. | |
Inklusives Theaterfestival „Mittenmang“: Die Rettung der Scheißwelt | |
In Bremen hat das inklusive Theaterfestival „Mittenmang“ begonnen. Zum | |
Auftakt stiften Schelhas CoOperation einen feministischen Mythos. | |
Porträt der Performerin Lucy Wilke: Wenn die Türen sich öffnen | |
Lucy Wilke ist Regisseurin, Performerin, Sängerin. Mit einer intimen | |
Performance über Freundschaft ist sie bald beim Berliner Theatertreffen zu | |
sehen. | |
Mittenmang-Festival in Bremen: Inklusiv ist subversiv | |
Höchst unterhaltsam geht es beim Bremer Mittenmang-Festival um die Frage: | |
Wer spricht für wen, wenn Menschen mit und ohne Behinderung Theater | |
spielen? | |
Inklusion im Kulturbetrieb: Theater nicht für alle | |
Menschen mit Behinderung haben nicht nur das Recht auf Teilhabe in der | |
Arbeitswelt, sondern auch in der Kultur. Das hat Deutschland unterzeichnet. | |
Einmaliges Inklusionsmodell in Bremen: Status: beeinträchtigt. Beruf: TänzerIn | |
Bremen hat nun ein bundesweit bislang einmaliges Arbeitsmodell: Behinderte | |
TänzerInnen arbeiten fest angestellt in Produktionen. |