| # taz.de -- Porträt der Performerin Lucy Wilke: Wenn die Türen sich öffnen | |
| > Lucy Wilke ist Regisseurin, Performerin, Sängerin. Mit einer intimen | |
| > Performance über Freundschaft ist sie bald beim Berliner Theatertreffen | |
| > zu sehen. | |
| Bild: Lucy Wilke und Paweł Duduś in „Scores that shaped our friendship“ | |
| Ja, sagt Lucy Wilke. Dass sie auf einem Münchner Wohnwagenplatz | |
| aufgewachsen ist, zwischen Flamenco- und Rumba-Klängen und Leuten aus | |
| vielen Kulturen habe sie und ihr „Nicht-Normativ-Sein“ enorm geprägt. | |
| „Natürlich war nicht alles nur idyllisch“, gibt sie zu. Aber Probleme habe | |
| ja jeder. | |
| Mit Schwächen und negativen Vibes hält sich die 36-jährige Sängerin, | |
| Performerin und Regisseurin nicht lange auf. Und wenn sie schon auf den | |
| Tisch müssen, dann gleich. So wie in der [1][Band, die sie seit 2013 mit | |
| ihrer Mutter Gika bildet. blind & lame] nennen sich die beiden nach einem | |
| Witz von Lucy – und weil es praktisch ist: Denn sind die Dinge erst mal | |
| ausgesprochen, kann man sich Wichtigerem zuwenden. | |
| Und so ist es nun mal: Gika ist blind, Lucy wurde 1984 mit spinaler | |
| Muskelatrophie geboren. „Meine Behinderung“, sagt sie entspannt, „gehört | |
| zum Gesamtpaket, das ich bin, macht mich aber nicht aus.“ Artikel über ihre | |
| Arbeit, die mit „trotz Rollstuhl“ beginnen, regen sie auf. Denn Künstlerin | |
| ist sie nicht trotzdem oder erst recht, sondern weil es ihrer kreativen | |
| Natur entspricht. | |
| Bei blind & lame hat Lucy die Leadstimme inne, die sich mit der Stimme und | |
| Gitarre ihrer Mutter, tanzbaren Rhythmen, komplexen Harmonien und Texten | |
| verbindet, die umstandslos Bedürfnisse äußern. Lucy singt „I wanna man“ | |
| oder „respect and love – and sex of course“. Und eine Zeit lang hat sie | |
| regelmäßig den Satz in ihr Tagebuch geschrieben: „Ich will Schauspielerin | |
| werden!“ | |
| An dem Nachmittag, an dem wir uns für dieses Porträt zusammentelefonieren, | |
| kommt sie gerade von einer bautechnischen Begehung der Münchner | |
| Kammerspiele, zu deren Ensemble sie seit dieser Spielzeit gehört. Das | |
| Ensemble ist neuerdings inklusiv, das Haus muss es noch werden. „Alle sind | |
| guten Willens, aber die Liste der baulichen Veränderungen ist lang“, sagt | |
| Lucy vergnügt. | |
| ## Ihre Energie dringt durch den Hörer | |
| Weil wir uns wegen Corona nicht treffen konnten, hat sie mich, wie sie | |
| sagt, „beim Spaziergang dabei“. Vor meinem inneren Auge kann ich sie unter | |
| dem bewölkten Märzhimmel sehen: Das blonde Haar offen, die stets | |
| ineinandergeschlagenen Beine auf dem Rollstuhl wie auf einem Yogakissen | |
| ruhend. Vielleicht trägt sie wieder etwas Rotes, ganz sicher etwas | |
| Ausgesuchtes. Ihre enorme Energie dringt selbst durch den Hörer und | |
| beschämt mich in meiner Lockdown-Trägheit. | |
| Mit dieser Energie – sie selbst nennt sich „ungemütlich“ – hat Lucy si… | |
| unablässig weitergebildet, ob am International Munich Art Lab oder in | |
| verschiedenen Regie-Assistenzen. Zur Schauspielerei, sagt sie, kam sie | |
| dennoch „wie die Jungfrau zum Kinde“. 2017 hatte in der Münchner Freien | |
| Szene „Fucking Disabled“ Premiere. Regisseur David von Westphalen wollte | |
| etwas über Sex und Behinderung machen und krönte den Abend mit einer | |
| hinreißend ehrlichen Liebesszene zwischen Lucy Wilke und dem queeren | |
| polnischen Tänzer Paweł Duduś. Damals, sagt Lucy, habe sie Blut geleckt, | |
| und kurz darauf hagelte es Anfragen, „so dass ich ein Jahr lang kaum noch | |
| zu Hause war“. | |
| In diesem Jahr hat sie mit der [2][mixed-abled Company] vom Tanzlabor | |
| Leipzig gearbeitet und – was sie noch heute zum Schwärmen bringt – in der | |
| Athener Oper gesungen. In Berlin schmiss sie sich in die Titelrolle von | |
| Monster Trucks „PHAEDRA“. In Wien traf sie Paweł Duduś wieder, die beiden | |
| wurden Freunde – und als sie der Choreograf Felix Ruckert fragte, ob sie in | |
| seinem Explore Festival für experimentelle Sexualität einen Workshop geben | |
| wolle, entschied sie spontan: Ja, aber nur mit Paweł. | |
| ## Verspieltheit teilen | |
| Der Workshop, den die beiden immer noch anbieten, sollte „Behinderung als | |
| erotische Chance begreifen“ und verschiedene Formen der Aktivität | |
| erforschen. Einiges davon ist schließlich in ihre gemeinsame Münchner | |
| Debütproduktion „Scores that shaped our friendship“ geflossen. Beantragt | |
| hatte Lucy ein Solo. „Doch dann saßen wir auf dem Olympiaberg und hatten | |
| viel mehr Lust, etwas über unsere Freundschaft zu machen. Wir dachten, dass | |
| die Verspieltheit, die wir teilen, auch andere interessieren könnte.“ | |
| Und wie! „Scores“ ist ein kleiner, feiner Abend über Nähe, Akzeptanz und | |
| Hingabe geworden, ein zärtlich-entspannter Pas de deux der Berührungen und | |
| Mikrobewegungen, der eher nebenbei auch unser normatives Sehen befragt. Im | |
| Herbst bekamen Lucy und Paweł dafür den Faust-Preis in der Kategorie | |
| „Darsteller/Darstellerin Tanz“. Im Mai ist [3][„Scores“ in der | |
| Zehnerauswahl des Berliner Theatertreffens] zu sehen. Coronabedingt wohl | |
| nur digital (13.–24. Mai), dabei wäre es so wichtig, dem berührendsten | |
| Stück des Jahres 2020 live und von Nahem beizuwohnen. Nach dem Motto „come | |
| a little closer, don’t you be scared“, wie es bei blind & lame heißt. | |
| Denn Angstfreiheit kann man von den beiden ebenso sehr lernen wie | |
| vorurteilsfreies „Witnessing“. Wenn Paweł lasziv im String-Body tanzt, | |
| „assistiert“ ihm Lucy „mit einem liebevollen Blick, der ihm bestätigt, d… | |
| es wunderbar ist“. Und ebenso assistiert er ihr, wenn er ihre Bewegungen | |
| mit seinen vergrößert oder ihr im Kapitel „You have such a pretty face, but | |
| …“ hilft, symbolisch ihr Gesicht zu entstellen, weil es sie so wütend | |
| macht, in Dating-Portalen „in Gesicht und Körper zerlegt zu werden“. | |
| Ganz fassen, „welche Türen sich gerade öffnen“, kann es Lucy Wilke noch | |
| immer nicht. Dabei ist sie, das zarte Energie- und Kreativpaket, ja aktiv | |
| beteiligt. Viel Neues hat sie schon wieder im Kopf; neben der Band, der | |
| Arbeit mit Paweł und an den Kammerspielen plant sie Projekte mit der | |
| „Scores“-Musikerin Kim Ramona Ranalter und mit Lotta, der Frau, mit der sie | |
| derzeit „in einer Beziehung“ ist. Bestimmt ist auch die Julia im Rollstuhl, | |
| von der Lucy Wilke schon lange träumt, nur eine Frage der Zeit. Aber so, | |
| dass der Rollstuhl kein Thema ist. Nur ein Device. | |
| 13 Apr 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabine Leucht | |
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