| # taz.de -- Feminismus beim Theatertreffen: Wie die Löcher im Käse | |
| > Die Performance „Name her“ von Marie Schleef ist wie feministischer | |
| > Frontalunterricht. Dem Theatertreffen tut der Bruch mit dem | |
| > Künstlerheroentum gut. | |
| Bild: In „Name her“ stellt Anne Tismer auch Helen Matthew Graham vor, Fußb… | |
| Eine amerikanische Mutter wollte gern, dass ihre Tochter berühmt wird. Also | |
| überlegte sie schon vor der Geburt, wie sie ihr einen Eintrag im | |
| Guinnessbuch der Rekorde sichern könnte. Sie verfiel auf den Trick eines | |
| besonders langen Vornamens, der alle Verwandten einschloss und für den die | |
| Geburtsurkunde massiv erweitert werden musste. Später verbot der Staat | |
| Texas zwar solche langen Namen, da hatten Mutter und Tochter es aber schon | |
| in verschiedene Talkshows geschafft. | |
| Ein kleiner Ausschnitt ihres Auftritts bei Oprah Winfrey ist in der | |
| Performance „Name her. Eine Suche nach den Frauen“ von Marie Schleef zu | |
| finden, die damit zum Theatertreffen eingeladen war. Sonntagabend wurde die | |
| sechsstündige Performance im Rahmen des Festivals gestreamt, das am | |
| Pfingstmontag mit [1][„Scores that shaped our friendship“ von Lucy Wilke] | |
| zu Ende ging. | |
| Marie Schleef ist eine junge Regisseurin, die schon in ihrer Diplomarbeit | |
| gefragt hat, warum es keinen weiblichen Kanon im deutschsprachigen Theater | |
| gibt. Ihr Stück „Name her“ hatte im September 2019 Premiere im Ballhaus Ost | |
| in Berlin, einer Produktionsstätte für die freie Szene, koproduziert von | |
| den Kammerspielen München und dem Kosmos Theater Wien. | |
| Dass es die dort mit geringen Mitteln ausgestatteten Projekte zu einer | |
| Einladung zum Theatertreffen, der Auswahl von zehn Inszenierungen, | |
| schaffen, ist selten. In diesem Jahr einerseits sicher dem Umstand | |
| geschuldet, dass wegen der langen pandemiebedingten Schließungen der | |
| Theater eben überhaupt weniger Premieren rauskamen und so kleinere Theater | |
| größere Chancen hatten. Andererseits passt die Wahl von „Name her“ | |
| kulturpolitisch gut in das Konzept des Theatertreffens, Regisseurinnen und | |
| Autorinnen zu fördern. | |
| ## Schauspielerin vor drei großen Smartphonebildschirmen | |
| Nicht zuletzt war das einfache Setting – eine Schauspielerin vor drei | |
| großen Smartphonebildschirmen – gut ins Digitale zu übersetzen, eine | |
| Qualität, die erstmals eine Rolle spielte. Und so wurde dieser Soloabend | |
| gleich hinter den Theaterschlachten [2][„Der Zauberberg“ vom Deutschen | |
| Theater in Berlin] und [3][„Reich des Todes“ aus dem Schauspielhaus | |
| Hamburg] gespielt. | |
| Vor dem Triptychon der Bildschirme stellt die Schauspielerin Anne Tismer | |
| ein Alphabet vergessener Frauen vor. Darunter sind sehr viele | |
| Naturwissenschaftlerinnen, Physikerinnen, Chemikerinnen, Astronominnen, | |
| Mathematikerinnen, bis ins Mittelalter gehen die Geschichten oft zurück. | |
| Zu Lebzeiten waren sie manchmal kurze Zeit anerkannt, bald aber wurden ihre | |
| Erkenntnisse von männlichen Kollegen vereinnahmt und ihre Namen | |
| verschwanden. Bis sie im Zuge feministischer Forschungsvorstöße in den | |
| 1970er/1980er Jahren wiederentdeckt wurden. Das ist die Zeit, in der Tismer | |
| sich für diese Geschichten zu interessieren begann. So repräsentieren sie | |
| und die Regisseurin zwei unterschiedliche Generationen auf der Suche nach | |
| den übersehenen Frauen. | |
| Tismer hat eine Vorliebe für Zahlen, Mathematik, das Universum, die Atome | |
| und den Ausdruckstanz. Sie erklärt viel und tanzt Flugbahnen des Mikro- und | |
| Makrokosmos, versucht mit beiden Händen am Weltverständnis zu weben. Das | |
| ist manchmal auch komisch. Vor allem aber merkt man, diese Begeisterung für | |
| die Naturwissenschaft ist fremd im Theater. Aber selbst wenn man nur die | |
| Hälfte versteht, ist es eine Horizonterweiterung. | |
| ## Erfolg mit Stoffdesign | |
| Tismer hat lange in Togo gelebt, viele ihrer Beiträge beziehen sich auf | |
| afrikanische Frauen. Wie Les Nana Benz, die mit ihren Stoffdesigns so | |
| großen Erfolg hatten, dass sie sich eben einen Benz leisten konnte. Trägt | |
| man den Stoff mit den Pfeilen, ist es der Tag, an dem man keine Lust hat | |
| auf Kontakte. Für ein Kind, das gerade das lateinische Alphabet lernen | |
| muss, ist der Stoff mit dem Alphabet. | |
| Oft sind die Informationen zu den Frauen nur kurz, aber dennoch bieten sie | |
| mehr als etwa ein Wikipedia-Eintrag, wenn der nicht gar ganz fehlt. Tismer | |
| bittet zum Beispiel die Augen zu schließen und einem Vortrag zur Eröffnung | |
| einer Ausstellung von Josephine Nivision (1883–1968) im Whitney Museum zu | |
| folgen. Ihre Porträts und Interieurs werden beschrieben, die oft einem | |
| Filmstill gleichen. Zu sehen bekommt man die Bilder nicht. | |
| In Wikipedia taucht sie nur als Josephine Hopper, Ehefrau von Edward | |
| Hopper, auf, um dessen Werk sie sich kümmerte. Eine Einblendung auf einem | |
| der Bildschirme in der Performance informiert, dass seine und ihre Werke an | |
| das Whitney Museum gingen, das einen Teil der Werke der Malerin vernichtet | |
| hat. So markiert die Performance Lücken und erzählt, wie sie nicht zufällig | |
| entstanden. | |
| Ein Beitrag widmet sich der Rede von der Ausnahmekünstlerin, die als | |
| Einzige aus einer Epoche bleibt; eine Floskel, so analysiert es Tismer, um | |
| andere gute Künstlerinnen abschreiben zu können. Die Performance wird so | |
| viel mehr als ein Alphabet vergessener Frauen, beleuchtet in Exkursen die | |
| Strategien des Vergessens und lässt neben den Vorgestellten ahnen, dass die | |
| Geschichtsschreibung mindestens so viele Lücken hat wie es Löcher im | |
| Schweizer Käse gibt. | |
| 24 May 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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