# taz.de -- „Der Zauberberg“ als Livestream-Premiere: „Ich muss sterben“ | |
> Orientierungsverlust und Angst: Sebastian Hartmann inszeniert den | |
> „Zauberberg“ in einer visuell überbordenden Livestream-Premiere in | |
> Berlin. | |
Bild: Man hört die Schritte im Schnee und bewundert die Berge im Video | |
Erst in der allerletzten Einstellung dieser Livestream-Premiere des | |
„Zauberbergs“ ist die Perspektive vertraut: aus dem Zuschauerraum auf die | |
Guckkastenbühne. Nach zwei Stunden verstörenden Traumgestöbers, in dem | |
sechs Live-Kameras den Bühnenraum aus allen erdenklichen Winkeln, oft mit | |
den hell erleuchteten, leeren Sitzreihen im Anschnitt, jedoch niemals in | |
der publikumstypischen Draufsicht erkundet haben, in dem mit Überblendungen | |
und Projektionen gespielt wurde, optische Täuschungen Orientierungsverlust | |
stifteten und doch auch immer wieder unheimliche Ruhe herrschte, erfolgt | |
ein Huch-Moment des Erwachens: Ach so, hier sind wir! | |
„All that we see or seem / is but a dream within a dream“: Seit über | |
zwanzig Jahren stellt Sebastian Hartmann diesen Vers des Schwarzromantikers | |
Edgar Allan Poe vor jede seiner Inszenierungen. Diesmal wirkt er fast | |
tautologisch, denn Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ von 1924 setzt am | |
Ende selbst die Pointe, dass jene sieben Jahre, die sein Protagonist Hans | |
Castorp im gediegenen Schweizer Sanatorium „Berghof“ verbracht hat, nur ein | |
Traum waren, aus dem ihn ein finaler Donnerschlag in den Schützengräben des | |
Ersten Weltkriegs reißt. | |
Vor zehn Jahren, [1][am Centraltheater Leipzig, hat Hartmann den Roman | |
schon einmal inszeniert], damals vergleichsweise konventionell mit Figuren | |
und Narration. Für das performative Gesamtkunstwerk, mit dem er jetzt auch | |
das Livestreaming von Theater auf völlig neue Füße stellt, braucht er nur | |
wenige Passagen aus Manns Tausendseiter, der nebenbei eine physikalische | |
Erkenntnis seiner Zeit und der Zeit, die Relativitätstheorie, gleichnishaft | |
fassen wollte. | |
## Im Schneesturm | |
Und so fängt es an: Tilo Baumgärtels animiertes Bergpanorama, zackiger als | |
jedes irdische Gebirge, verspricht ein Game, das einen das Gruseln lehren | |
könnte. Dazu Sturmgeräusche, das Knirschen schwerer Schritte im Schnee, der | |
weiß geschminkte Kopf von Markwart Müller-Elmau, der jetzt schon den | |
Kriegs-Epilog murmelt, und dann, überblendend, die ebenfalls geweißte Linda | |
Pöppel, deren künstlich verzerrte Stimme über das Wesen der Zeit nachdenkt: | |
„Kann man die Zeit erzählen?“ | |
Eine Seilschaft stapft im Gleichschritt auf die Bühne. Das Ensemble steckt | |
in ausgemergelten Körperkostümen und dickwülstigen Fat-Suits, entworfen von | |
Adriana Braga Peretzki: Ist dies noch die Ankunft der Zivilisationskranken | |
im Sanatorium oder schon der Gang durch den Schneesturm, ein | |
Schlüsselkapitel im „Zauberberg“, in dem sich Hans Castorp gerade noch vor | |
dem Erfrieren in einen Schuppen retten kann? Wo er, vom mitgebrachten | |
Portwein beduselt, von arkadischen Landschaften träumt, die plötzlich in | |
Schreckensbilder von kinderfressenden Hexen kippen? | |
Auf Hartmanns Sound- und Bilderbühne gibt es kein narratives Nacheinander, | |
eher ein permanentes Auseinanderfalten von Gleichzeitigkeiten, von immer | |
neuen Perspektiven auf Körpervorgänge und Gefühlszustände. Samuel Wieses | |
elektronische Livemusik spinnt Atmosphären weiter, baut auf | |
Stimmverzerrungen auf. | |
Nach und nach erst erschließt sich der Bühnenraum: Auf dem Fußboden ein | |
labyrinthisches Muster, dazu eine kryptische Holzskulptur zwischen Zirkel | |
und Winkel, halb liegend, halb schwebend. Zeitweilig wird das Bodenmuster | |
an die Rückwand projiziert, auf dass die kleinen Rund- und Spitzmenschlein | |
wie Wolken darauf fliegen oder zu schwimmen scheinen wie die Wale. Die | |
Livebildregie (Jan Speckenbach, Lennart Löttker) legt flimmernde | |
Kriegsbemalung auf die Gesichter oder noch mehr Weiß, fast bis zur | |
Auslöschung. | |
## Bausatz Mensch | |
„Was ist der Leib des Menschen? Was ist das Leben?“, fragt Birgit | |
Unterweger, die lange nur Körperteile aufgezählt hat, Schulterblatt, | |
Schlüsselbein, eine verzweifelte Materialliste. Bausatz Mensch oder | |
Maschine, wie Elias Arens bouncendes Michelinmännchen oder Niklas Wetzels | |
Pinocchio-Puppe mit unglaublicher Körper- und Stimmvirtuosität vorführen. | |
Letzterer wird von zwei Hexen in Spitzenkleidern mit Akkuschraubern immer | |
wieder aufgerichtet und mit den Argumenten der philosophierenden | |
Mitpatienten Naphta und Settembrini belebt, bis ihn erneut die Erkenntnis | |
niederschmettert: „Ich muss sterben!“ | |
Immer wieder brechen Technik und Humor den Selbstverausgabungsfuror der | |
Spieler*innen, etwa, wenn in die aufwühlenden Existenzfragen plötzlich | |
zwei profane Scherenhebebühnen einfahren oder Harder und Arens nach | |
Monologschwerstarbeit Desinfektionsmittel aus dem Spender pumpen. | |
Überhaupt hält die pandemische Wirklichkeit gegen Ende Einzug in die | |
Traumkunst: „Verirrung ist das Zeichen der Zeit, das Menschliche hat das | |
Göttliche infiziert – hehe, Betrachtungen eines Unpolitischen“, grinst | |
Harder maliziös und weist auf den leeren Zuschauerraum: „Die Gesellschaft | |
hat sich selbst abgeschafft.“ | |
Eine abschließende Sinnschleife um diesen überbordenden, offenen, vor allem | |
ästhetisch visionären Abend ist das sicher nicht. Vielmehr scheint Harder | |
sich bereits an ein Publikum der Zukunft zu richten, wenn er die Traumfülle | |
angesichts der Leere preist: Tatsächlich wurden über 3.000 digitale | |
Zugriffe vermeldet, von denen über zwei Drittel die Aufführung | |
kontinuierlich gesichtet haben. Die Live-Premiere im [2][Deutschen Theater | |
in Berlin] ist nun für Mitte Dezember geplant. | |
23 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Leipziger-Centraltheater/!5132584 | |
[2] /Neue-Intendantin-in-Berlin/!5729715 | |
## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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