# taz.de -- Lockdown-Programm an den Theatern: Digital, aber nicht kopflos | |
> Im Frühjahr zogen die Theater mit Hochdruck ins Internet. Im zweiten | |
> Lockdown ist es ruhiger und manche Stücke im Norden stellen neue Fragen. | |
Bild: Ist das noch Theater – oder doch schon Film? Dreharbeiten für „Tödl… | |
BREMEN taz | Kaum sind die Theater wieder geschlossen, da schmeißt die | |
Kulturszene die Bildschirme an. Und das nicht nur wegen Fernsehen, Netflix | |
und Co., sondern weil auch die Schauspielhäuser im Norden wieder vermehrt | |
streamen: Am Samstag etwa überträgt das Hamburger Schauspielhaus seine nun | |
publikumsbefreite Premiere von Ödön von Horváths „Geschichten aus dem | |
Wiener Wald“ ins Internet, kommende Woche lädt das Schauspiel Kiel mit | |
“Golem 24143“ zum interaktiven Theaterspiel an Monitor und Telefon. Bereits | |
fertig und im Netz verfügbar ist der von vornherein für die Kamera | |
inszenierte dreiteilige Bühnenkrimi „Tödliche Entscheidung“ aus Osnabrüc… | |
Doch obwohl diese und ein paar weitere virtuelle Theaterabende im Lockdown | |
anstehen, scheint die virulente Streamerei des Frühjahrs doch arg | |
abgeflaut. Hört man sich in den Theatern um, scheint sich dort eher | |
Müdigkeit breitzumachen. Die Ensembles seien vom Spielzeitstart unter | |
Hygienebedingungen und der anhaltenden Unsicherheit ausgelaugt, heißt es, | |
und die allermeisten Premieren wurden auf unbestimmte Zeit verschoben, | |
anstatt jetzt noch mal aufwendig für die Kamera aufbereitet zu werden. „Von | |
der Putzfrau bis zum Intendanten bleiben alle zu Hause“, heißt es etwa aus | |
Oldenburg, während man sich Braunschweig ausschließlich auf den | |
Probenbetrieb konzentriert. | |
Dass die mitunter manische Phase vorbei ist, heißt freilich nicht, dass die | |
Sache endgültig vom Tisch wäre. An den Stadt- und Staatstheatern sind | |
hinter den Kulissen diverse digitale Formate in der Entwicklung, und wo man | |
sich den langen Atem so nicht leisten kann – in der freien Szene nämlich – | |
laufen inzwischen kontinuierlich neue Netzprojekte vom Stapel. | |
Auch die anfangs noch heiß diskutierten Probleme von Monetarisierung und | |
Urheberrechten scheint konstruktive Wege einzuschlagen: die Frage also, wie | |
sich mit dem Streamen Geld einspielen lässt – und wem das dann eigentlich | |
zusteht. Genutzt werden inzwischen Plattformen wie das US-amerikanische | |
Vimeo, das neben privaten Filmangeboten auch Kostenpflichtiges | |
distributiert. | |
## Ästhetische Fragen im Mittelpunkt | |
Es geht also weiter, nur nicht mehr Hals über Kopf. Und neben | |
organisatorischen, technischen und rechtlichen Hürden rücken langsam auch | |
ästhetischen Fragen in den Mittelpunkt. Das nämlich ist beim engagierten | |
Draufhalten der ersten Wochen schnell klar geworden: Film, Fernsehen und | |
Theater sind erstens nicht das Gleiche – und vertragen sich zweitens auch | |
längst nicht immer gut miteinander. | |
Dominique Schnizers „Tödliche Entscheidung“ ist ein Fall, in dem es gut | |
funktioniert. Die Webserie des Osnabrücker Theaters ist auch keine | |
Hauruckaktion aus der Not, sondern war bereits vor dem Lockdown | |
angelaufen. Die Inszenierung orientiert sich stark am Fernsehkrimi, | |
versucht allerdings, das interaktive Moment eines Theaterbesuchs durch | |
Publikumsbefragungen sogar noch zu steigern. „Wen es erwischt hat“, steht | |
am Ende des erstens Teils über dem eingefrorenen Bild einer verhüllten | |
Leiche: „Ihre Entscheidung.“ | |
Äußerlich folgt „Tödliche Entscheidung“ den Konventionen des Genres: | |
Rückblenden deuten das Tatgeschehen an, während im Büro das | |
Ermittler:innenduo Monika Vivell und Viet Anh Alexander Tran Konflikte vor | |
allem miteinander austrägt. Die Kamera schaut sich derweil um, in einer | |
dank Nahaufnahme bemerkenswert detailliert zu besichtigenden Szenerie, vom | |
Tacker auf dem Tisch bis zum wippenden Strohhalm in der Energydrink-Dose | |
der entsprechend aufgekratzten Oberkommissarin. | |
Bemerkenswert gegenwärtig wirkt das, weil auch im Krimi Corona herrscht und | |
die Ermittler:innen einander auf dem Flur distanziert umtänzeln: präzise | |
umgesetzte Alltagsbeobachtungen, die das Stück tatsächlich | |
authentisch-aktuell wirken lassen, statt es zu überfrachten. Eigentlich | |
müsste man dank fehlender Außenaufnahmen und Statist:innen-Horde sagen: | |
„Tödliche Entscheidung“ sei ein Fernsehfilm mit beschränkten Mitteln. | |
Nur schaut man’s anders, weil eben „Theater“ drüber steht: ein Rahmen, d… | |
schon aus Tradition einen deutenden Blick provoziert. Vom Ausdruck der | |
Spielenden, der hier beabsichtigt oder nicht, zwangsläufig als ironischer | |
Kommentar aufs Vorabendfernsehen rüberkommt. Weiter geht’s beim Plot, der | |
sich trotz Publikumseingriffen schlüssig entwickelt, aber doch nie die | |
eigentliche Spannung stiftet. So ist das im Theater, wo seit 400 Jahren mit | |
Romeo und Julia gezittert wird, obwohl wirklich jede:r weiß, dass die Sache | |
kein gutes Ende nimmt. | |
Aus der Gegenrichtung hatte Regisseur Robert Gerloff gerade ein ähnliches | |
Spiel getrieben und den Kinoklassiker „King Kong“ auf die Oldenburgische | |
Theaterbühne gebracht. Sein „King Kong und der alte weiße Mann“ hatte er | |
nicht nur mit Zitaten von Filmexperten wie Georg Seeßlen und Alexander | |
Kluge gespickt, sondern auch das Schauspiel am so fremden Nachbarmedium | |
ausgerichtet: Da wurden auf der Bühne Stop-Motion-Effekte simuliert und das | |
Klischee vom überagierenden Theaterschauspiel hinterfragend und dabei | |
ausgesprochen unterhaltsam auf die Spitze getrieben. | |
„King Kong und der alte weiße Mann“ war am letzten Abend vor dem Lockdown | |
im Theater zu sehen, gestreamt wird es nicht. Wahrscheinlich würde das auch | |
nicht funktionieren, weil hier so ausdrücklich das Kino ins Theater geholt | |
wird, während „Tödliche Entscheidung“ das Gegenteil unternimmt. Die so | |
unterschiedlichen Produktionen führen gemeinsamen vor, welcher ästhetische | |
Mehrwert in der inhaltlichen Beschäftigung mit dem neuen Produktionsmedium | |
schlummert, solange das nur freiwillig geschieht. Vermutlich wird in dieser | |
Hinsicht in Zukunft noch mehr zu erleben sein – nach dem Lockdown dann. | |
6 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Jan-Paul Koopmann | |
## TAGS | |
Theater Osnabrück | |
Theater | |
Streaming | |
Lockdown | |
Digitalisierung | |
Schauspielhaus Hamburg | |
Netflix | |
Netzkultur | |
Theater | |
Stipendium | |
taz.gazete | |
taz Plan | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kinoprogramm im Netz: Das Digitale gehört nicht Netflix | |
Oldenburgs Filmkunstkino Cine K zeigt im virtuellen Cine 3 ein kuratiertes | |
Kinoprogramm, um den großen Onlineanbietern etwas Kluges entgegenzusetzen. | |
Online-Angebote des Theaters Kiel: Feierstunde einer versunkenen Liebe | |
Als Hörspiel präsentiert das Theater Kiel das Stück „Seine Braut war das | |
Meer und sie umschlang ihn“. Und „Alice im Wunderland“ gibt es als Film. | |
„Der Zauberberg“ als Livestream-Premiere: „Ich muss sterben“ | |
Orientierungsverlust und Angst: Sebastian Hartmann inszeniert den | |
„Zauberberg“ in einer visuell überbordenden Livestream-Premiere in Berlin. | |
Künstler*innenförderung in der Krise: Stipendien statt Nothilfe | |
Statt Künstler*innen bloße Nothilfe zu gewähren, bekommen in Bremen bald | |
bis zu 400 von ihnen ein Stipendium. Das Geld kommt aus dem Bremen-Fonds. | |
Kulturbetrieb im Lockdown: Der Mehrheit egal | |
Welche gesellschaftliche Relevanz hat Kultur? Ich habe mich darüber schon | |
heftig gestritten, weil ich eine recht negative Auffassung dazu vertrat. | |
Theatertipps für Berlin: Den Körper zu Hause lassen | |
Von 100 Jahre linker Militanz bis zum „Festival der Dinge“: Aufgrund der | |
Umstände steigen die Theater wieder von Analog auf Digital um. | |
Berliner Kulturschaffende über Lockdown: „Man wird konservativ planen“ | |
Insbesondere junge KünstlerInnen haben es im neuerlichen Lockdown schwer, | |
sagt Janina Benduski vom Landesverband der freien darstellenden Künste. |