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# taz.de -- Kulturbetrieb im Lockdown: Der Mehrheit egal
> Welche gesellschaftliche Relevanz hat Kultur? Ich habe mich darüber schon
> heftig gestritten, weil ich eine recht negative Auffassung dazu vertrat.
Bild: Ist derzeit kein Forum zur Beantwortung von Fragen: Das Deutsche Schauspi…
Viele mit mir befreundete Menschen aus dem Kulturbetrieb sind derzeit
traurig, wütend, enttäuscht. Es geht nicht nur darum, dass Künstler*innen
jetzt schon wieder nicht auftreten dürfen, es geht auch darum, dass Kunst
und Kultur in einem Atemzug mit Spielhallen und Prostitution genannt, mit
„Unterhaltung“ gleichgesetzt werden.
Im Thalia-Theater in Hamburg hat es am Wochenende einen „Gottesdienst der
Künste“ gegeben. Dass es momentan, zumindest in Hamburg, eine gewisse
Kooperation zwischen Kirchen und dem Kulturbetrieb gibt, halte ich für ein
gutes Zeichen, für eine Chance für beide. Ich selbst habe am Freitag im
Kleinen Michel gelesen, eine Charity-Veranstaltung für das Ledigenwohnheim.
Aber nun müssen die Theater schließen, die Kirchen bleiben auf. Ist das
gerecht? Und ist das die Frage, die im Moment relevant ist? Gibt es im
Moment überhaupt gute, im Sinne von gerechten, Entscheidungen? Fragen,
Fragen, Fragen, und wer soll sie beantworten, wenn die Theater zu sind?
Wenn Lesungen nicht mehr stattfinden? Das Internet? Und also: Welche
gesellschaftliche Relevanz hat Kultur?
Ich habe mich in diesem Zusammenhang schon einmal heftig gestritten, weil
ich eine recht negative Auffassung dazu vertrat. Das, was ich unter Kultur
verstehe, hat meines Erachtens eine recht geringe Relevanz für den größten
Teil unserer Gesellschaft. Wer geht in ein klassisches Konzert, wer ins
Theater, wer besucht eine Lesung, ein Programmkino? Und vor allem: Wem
bedeutet das alles etwas, oder sehr viel?
Ich kenne solche Menschen, ich lebe im Kulturbetrieb. Aber die große Masse
sieht abends fern. Wenn wir das Fernsehprogramm einstellen würden, wenn wir
die Streaming-Plattformen abschalten würden, dann, ja dann gäbe es einen
Aufstand.
Und ich kann ja noch nicht einmal behaupten, dass da keine anspruchsvollere
Kultur zu finden sei. Es gibt Sender mit recht interessantem und
anspruchsvollem Fernsehprogramm. Ich lasse mich immer wieder von MUBI
überraschen, das von Filmkritikern kuratiert wird.
Und wie ist das nun mit den Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen im ZDF? Ist das
keine Kultur? Sind die ganzen Stapel Taschenbücher, auf deren Covern
irgendwelche Blüten sind, hinter denen sich ein verträumtes Cottage
versteckt und die irgendwas mit erst tragischer Liebe, die dann doch noch
gut wird, zum Inhalt haben – und die sich hunderttausendmal besser
verkaufen, als zum Beispiel mein eigener Roman – sind die keine Kultur?
Gibt es wertvollere und weniger wertvolle Kultur? Und wonach bemisst sich
der Wert?
Meine Eltern hatten gegenüber den Dingen, die sie nicht verstanden, immer
eine gewisse Feindseligkeit. Kunst war für sie etwas, was sie schön fanden.
Schön war, was sie sich ins Wohnzimmer hängen würden. Eine nette
Landschaft, ein Blumenstrauß.
Ähnliches galt meiner Mutter für Bücher, mein Vater las erst gar nicht. Dem
Großteil der Deutschen, behaupte ich, ist die Schließung von Museen und
Theatern egal. Ist diese Ignoranz nun ein Problem der Deutschen oder der
Museen und Theater?
Wenn Literatur viele Menschen nicht erreicht, sollte sie sich dann ändern,
zugänglicher werden, verständlicher? Sollten wir eine Art „einfacher
Sprache“ entwickeln, die Konfliktlagen weniger ambivalent, die Figuren
unserer Theateraufführungen eindimensionaler und „liebenswerter“, die
Handlung komischer, die Bühnenbilder romantischer oder realistischer und
die Konzerte mehr der musikalischen Bildung einer Mehrheit der Bevölkerung
angepasst gestalten? Damit all diesen wenig interessierten Menschen Kultur
relevanter wird? Soll die Kultur sich bücken und den Versuch unternehmen,
die Menschen mit sich emporzuheben? Oder sollen wir den Teil der Kultur,
der, sagen wir mal, sich in der Familienpackung gut verkauft, dem „Volk“
überlassen und dem Rest, den kulturaffinen Exzentriker*innen, die
sogenannte „Hochkultur“?
Und wenn nun wirklich ein größerer Teil der Menschen daran interessiert
ist, shoppen zu gehen, ist es dann nicht richtig, die Kunsthalle zu
schließen, anstatt H&M? Viel Spaß bei der Beantwortung dieser Fragen!
4 Nov 2020
## AUTOREN
Katrin Seddig
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