| # taz.de -- Uraufführung am Deutschen Theater Berlin: Vor allem Spieltrieb | |
| > Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ spukt böse in der | |
| > Subjektphilosophie. Am Deutschen Theater in Berlin wird daraus anregendes | |
| > Musiktheater. | |
| Bild: Text wird Tanz, komisch, zackig, ausdrucksstark in „Der Einzige und sei… | |
| „Vielleicht, vielleicht, vielleicht, vielleicht“. Ein Wort mit Tiefgang. | |
| Mit Möglichkeiten, mit Konjunktiv. Wenn Elias Arens auf der Bühne des | |
| Deutschen Theaters in Berlin einmal nur mit diesem Wort spielt, in vielen | |
| Wiederholungen, hineinhorchend, es ausprobierend, Emotionen wechselnd von | |
| furchtsam bis hoffnungsvoll, dann pocht darin eine Welt voller Geschichten. | |
| Das geschieht in einem musikalisch höchst eingängigen Theaterabend, den | |
| [1][Sebastian Hartmann] inszeniert hat. Der ist selten seinem Publikum so | |
| milde gegenüber gestimmt, wie ausgerechnet in der Arbeit mit „Der Einzige | |
| und sein Eigentum“, einem berühmt-berüchtigten Text von Max Stirner. | |
| Geschrieben 1844 blieb es das einzige Buch von Stirner. Es taugte in seinem | |
| Versuch, das Individuum aus der Gesellschaft herausgelöst zu betrachten und | |
| von allen moralischen Verpflichtungen zu befreien, vor allem dazu, dem | |
| Autor prominente Gegner einzubringen, unter anderem Karl Marx. | |
| Vor diesem Hintergrund ist die erste Überraschung der Inszenierung, dass | |
| sie ziemlich unterhaltsam und witzig ist. Aus dem Prosatext sind oft kurze | |
| Zeilen herausgehauen, die gesprochen, gesungen und geloopt werden und mit | |
| der druckvollen Musik von PC Nackt, live knapp unterhalb der Bühne | |
| gespielt, in eine soghafte Bewegung versetzt werden, der hier alles folgt. | |
| Dieser Sog ist die zweite Überraschung: Ein Turm, der wie eine Spirale | |
| gebaut ist, dreht sich auf der Bühne, Sebastian Hartmann zeichnet auch als | |
| Bühnenbildner. In ihn schrauben sich die Schauspieler hinein und heraus, | |
| mal als Prozession, mal als groteske Comicfiguren und Karikaturen, mal in | |
| großer Garderobe als expressionistische Diven und unglückliche Verirrte. | |
| ## Vom Stummfilm bis zur Virtual Reality | |
| Und so entsteht die dritte Überraschung: Auf der visuellen Ebene und in der | |
| Musik ist diese Inszenierung verspielt, kokettiert mit Stummfilmästhetik | |
| ebenso wie mit virtuellen Welten, in der alle zu Bienen werden, und baut | |
| Minidramen in wenigen Bildern. Von unglücklich Verliebten, vom | |
| Fast-ertrinken in einem Sarg aus Glas, von der feierlichen Grablegung eines | |
| ermordeten Roboters, von geheimnisvollen Prozessionen und finsteren | |
| Gestalten. | |
| Kurzum, man hat viel zu schauen, zu staunen, zu rätseln. Und bekommt dabei | |
| nach und nach kleine Dosen des Textes untergejubelt, dessen Giftigkeit und | |
| Monstrosität sich so langsam auffaltet. | |
| Da ist es ein genussvolles Räkeln, ein wollüstiges sich Schmiegen an die | |
| Wand des Turms, das den Satz „dein name mensch/ muss über allen namen | |
| sein“, begleitet. Er fließt in Wiederholungen mit der durchaus | |
| poptauglichen Musik, wird zu einem Teppich von Worten, hüllt mit seiner | |
| Allmachtsfantasie die Spielenden ein wie ein weiter Mantel. „Ich bin | |
| schöpfer /und geschöpf in einem /mir zu gute“ ist so ein weiterer | |
| Satzfetzen aus dieser jede Bindung leugnenden Ichschöpfung, der sich in der | |
| Wiederholung als allgemeingültige Ansage geriert. | |
| ## Radikaler Individualismus | |
| Verantwortung? Demokratie? Pflichten? Solidarität? In jedem hörbaren | |
| Abschnitt wischt der Text, dem das Subjekt das Heiligste ist, solche | |
| Kategorien beiseite. Die Abnabelung aus allen sozialen Kontexten gipfelt in | |
| einem längeren Monolog über das Recht, der letztendlich auf das Recht des | |
| Stärkeren setzt und in Zynismus führt. „Euer Recht ist nicht mächtiger, | |
| wenn ihr nicht mächtiger seid. Haben Untertanen ein Recht auf Freiheit? | |
| Schenkt sie ihnen doch und seht, wie sehr ihr euch vergriffen habt: weil | |
| sie die Freiheit nicht zu nutzen wissen, haben sie kein Recht darauf, weil | |
| sie die Freiheit nicht haben, haben sie eben das Recht dazu nicht.“ | |
| Elias Arens exekutiert in diesem Text die einzelnen Silben, er führt die | |
| Sprache wie eine scharfe Waffe dabei, sein schlanker Körper setzt Kraft | |
| dahinter. Es ist die körperliche Akzentuierung des Sprechens, mit der das | |
| ganze Ensemble – Anja Schneider, Linda Pöppel, Cordelia Wege, Felix Goeser | |
| und Niklas Wetzel – den Worten Temperaturen und Farben verleiht, die sich | |
| verändern können, in Bewegung sind, wie alles hier. | |
| So kommen die Worte als scharfe Ansage, mit absolutem Wahrheitsanspruch | |
| vorgetragen vor, aber auch mit Zweifel und Fragen gesprochen. Sie sind mal | |
| Ausdruck von Verzweiflung und Trauer, einer tiefen Verlorenheit; dann | |
| wieder gesetzt als nicht mehr zu diskutierendes Ergebnis. | |
| Bleibt die Frage, was denn Stirners Subjektphilosophie mit der Gegenwart zu | |
| tun hat? Viel. Zwar würde heute wohl kaum jemand seinen Egoismus so | |
| begründen wollen, gelebt aber wird die damit legitimierte | |
| Rücksichtslosigkeit allerorten, im Großen wie im Kleinen. Die Inszenierung | |
| bebildert das nicht, die Bilder dazu fallen einem dann ab und zu selbst | |
| schon ein. | |
| 6 Sep 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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