# taz.de -- Performance Pol Pi und Solistenensemble: Musik, die in der Stille w… | |
> Im Radialsystem spürt die Performance „In your head“ von Pol Pi und einem | |
> Solistenensemble dem Vermächtnis von Dmitri Schostakowitsch nach. | |
Bild: Noch tasten sie nach der Musik: die Streicherinnen des Solistenensembles … | |
Seit das Radialsystem im ehemaligen Pumpwerk an der Spree [1][2006 | |
eröffnet] wurde, ist es einem Programmpunkt treu geblieben: die | |
Erlebbarkeit von Musik und Tanz, die Beziehung von Klang und Körper immer | |
wieder aufs Neue auszuloten. 2008 zeigte Sasha Waltz hier ihr Stück „Jagden | |
und Formen“ zu einer Komposition von Wolfgang Rihm, das dessen Suche nach | |
einer Form in ein körperliches Spiel übersetzte. Vor zwei Jahren wurde hier | |
auch „In C“ von Waltz aufgeführt, das [2][musikalische Figuren einer | |
Partitur von Terry Riley] in choreografische Formationen übersetzte. | |
Aber nicht nur Waltz, auch [3][andere ans Haus eingeladene | |
Choreograf:innen] suchen in der Musik mehr als eine spannende | |
Begleitung. 2022 war der brasilianisch-französische Choreograf [4][Pol Pi | |
Gast des Residenzprogramms „Body Time Space“]. Er studierte Musik in | |
Brasilien und spielte die Bratsche, bevor er zum Tanz kam. Vor diesem | |
Hintergrund forschte er am Radialsystem mit Musikerinnen des | |
Solistenensembles Kaleidoskop nach der Musikalität des Körpers. Die, so | |
denkt er, sich auch in der Stille entfalten kann. Ein Ergebnis dieser | |
Forschung ist das Stück „In your head“, das zunächst in Montpellier und | |
Belgien, und zuletzt am Wochenende im Radialsystem aufgeführt wurde. | |
Es sind vier Musikerinnen, die hier zunächst in der Stille performen. Zwar | |
lassen ihre Bewegungen Spuren des Streichens der Saiteninstrumente mit dem | |
Bogen erahnen, aber bringen auch jede von ihnen in eine andere Richtung. | |
Die Violinistin Anna Faber beginnt, ihre Hände greifen und tasten | |
vorsichtig nach etwas Unbekanntem, sie breiten etwas aus und fassen etwas | |
zusammen. Yodfat Meron folgt, ihre Bewegungen sind hart und zuckend, etwas | |
Machtvolles bedrängt und schüttelt sie. | |
Sie braucht ihre Kraft als Gegenwehr. Mit Knurren und Hecheln übernimmt die | |
Violinistin Mia Bodet etwas von deren angespannter Energie, von deren Wut, | |
etwas Animalisches tritt in Erscheinung, das bald aber auch in zierlichen | |
Tanzschritten gezähmt wird. Als letzte übernimmt die Cellistin Sophie | |
Nolte, mit langen Gliedern und Fingern, die auf Tuchfühlung mit etwas nicht | |
Sichtbarem gehen. | |
## Schostakowitschs angespanntes Verhältnis zum Stalinismus | |
Ahnt man in dieser Phase, dass sich die Vier mit einem Quartett von Dmitri | |
Schostakowitsch beschäftigen? Man weiß es womöglich aus dem Programmzettel, | |
konkret erfahren lässt es sich noch nicht. Wohl aber, wie die Vier als | |
Solistinnen sich in der nächsten Phase zum Quartett formen, in Beziehung | |
zueinander setzen, Schwingungen voneinander übernehmen, Nähe und Vertrauen | |
aufbauen, Schutz im Miteinander finden. | |
Erst im zweiten Teil des Abends nehmen sie die Instrumente in die Hand. Das | |
Streichquartett Nr. 8 in c-moll von Schostakowitsch, 1960 uraufgeführt, | |
gilt als eine Art Vermächtnis des Komponisten, das auch sein angespanntes | |
Verhältnis zu den Forderungen des Stalinismus an die Kultur reflektiert. So | |
viel kann man wissen oder vorher nachlesen. | |
In der Interpretation von Pol Pi und dem Solistenensemble Kaleidoskop | |
erhält die Musik etwas Gespenstisches und Zerrissenes. Nicht nur weil | |
Schleier die Gesichter der Musikerinnen teilweise verhüllen. Anfangs fahren | |
die Klänge wie Blitze auf eine Ebene nieder; ein Moment des Schocks, dem | |
ein Ereignis des Schreckens schon vorausgegangen zu sein scheint. Einmal | |
könnte man denken, die Musik eines untergegangenen jüdischen Schtetls zu | |
hören, etwas tanzt in die Komposition und zieht wieder hinaus. | |
Manchmal unterbricht Stille das Quartett, einmal auch Sprache aus dem Off. | |
Pol Pi hat mit den Musikerinnen über ihr Verhältnis zu ihrem Instrument und | |
der Musik geredet, Ausschnitte davon fließen in die Inszenierung ein. Doch | |
davon erhascht man nur einzelne Sätze. Ihren Aussagen zu folgen und sie zu | |
verstehen, ist nicht einfach, so leicht kann man nicht in den Kontext der | |
Zitate finden. So hat diese dokumentarische Ebene noch nicht zu ihrer | |
richtigen Form gefunden. | |
Doch etwas bleibt hängen, die Suche nach Verbundenheit, nach einem | |
Zusammenhang mit anderen, nach dem Übergang in einen Raum und eine Zeit, | |
die immer mehr umfassen, als der Ort, an dem man grade probt oder übt. | |
Diese Suche nach dem Herauswachsen aus dem Augenblick, sie verbindet die | |
einzelnen Elemente der Performance. Und ein ungewöhnliches Konzert ist sie | |
allemal. | |
27 Feb 2023 | |
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[3] /Choeografin-Kasia-Wolinska/!5869823 | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=BXVG20QVBVU | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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