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# taz.de -- Schorsch Kamerun inszeniert in Bremen: Offene Machtfragen
> Zwischen Barock und Punk ist eine Menge los. Diskurse flirren in Schorsch
> Kameruns Inszenierung von Henry Purcells „King Arthur“ in Bremen.
Bild: Purcells Könige sind dabei, aber nicht leicht zu entdecken im Wimmelbild
Lassen wir Arthur einen Moment beiseite und auch Sachsenkönig Oswald,
obwohl doch beide für die Geschichte richtig wichtig sind und auch ganz
zauberhaft gespielt werden. Sie sind auch nach wie vor die Hauptfiguren in
Henry Purcell Oper „King Arthur“ – woran auch [1][Schorsch Kamerun] nicht
rüttelt, der das Werk in Bremen inszeniert und ansonsten nicht gerade
zimperlich ist beim Remixen, Verschalten, Kommentieren und Zerreden des
Stoffs.
Aber wie gesagt: Auf die Könige kommt’s nicht an. Gar nicht, weil man sie
zur Nebensache degradiert hätte, sondern weil Schorsch Kamerun und sein
Ensemble die Bühne am Bremer Goetheplatz im Laufe des Abends mit mehr und
immer mehr Hauptsächlichkeiten zustellen.
Aber von Anfang an: Bereits im Sommer vergangenen Jahres hatte der
Hamburger Punk-Avantgardist und Theater-Experimentator Schorsch Kamerun in
Bremen mit Purcells barocker Semi-Oper gearbeitet. Damals war „King Arthur“
wegen Corona-Auflagen, Infektionsgefahr und Planungsunsicherheit draußen
unter freiem Himmel in die Schlacht gezogen, als eher unfertige Collage
einzelner Motive des Klassikers – und als tatsächlich schwungvoller
Überfall auf den öffentlichen Raum: Während hinten die Straßenbahn
vorbeirauschte, verirrten sich von vorn ständig überrumpelte
Spaziergänger:innen, Fahrräder und Kinderwagen mitten in der
Bühnenlandschaft.
## Die Überfrachtung ist gewollt
Mit der zweiten Premiere am Wochenende ist Kameruns Purcell nun auch im
großen Haus angekommen – fertiger zwar, darum aber noch unübersichtlicher.
Es drängt einem nämlich noch überwältigender entgegen, auf der zwar großen,
aber eben auch proppenvollen Bühne: das Multispartenprojekt aus Schauspiel,
Sänger:innen, Bremens Jungem Theater, dem Chor, den um barocke
Instrumentalisierung aufgerüsteten Philharmonikern,
Performing-Art-Studierenden und [2][Soundscape-Elektroniker PC Nackt].
Nicht mal die Öffentlichkeit bleibt so richtig ausgesperrt, weil Teile des
Geschehens nach wie vor draußen auf dem Goetheplatz stattfinden und per
Livekamera auf die Bühnenwände projiziert werden. Die Überfrachtung ist
gewollt. Nicht umsonst trägt dieser „King Arthur“ den Untertitel:
„Musiktheater-Happening über alte und neue Katastrophen“.
Bei all dem Gewusel ist beinahe überraschend, dass sich die Geschichte im
Wesentlichen doch an Purcells Oper, beziehungsweise dem Libretto John
Drydens orientiert. Man muss die Geschichte nur erstens kennen und zweitens
auch ein bisschen die Augen danach offen halten. Denn während irgendwo oben
auf Katja Eichbaums Bühne, einem so abstrakten wie monumentalen Kubus, die
besagte Könige zunächst um Land und später vor allem um die zauberhafte
Emmeline zu Felde ziehen, passiert nebenher eben noch … alles Mögliche.
## Sendungsbewusst in der Kunstbubble
Vom Pult am Bühnenrand moderiert „Abendspielleiter“ Schorsch Kamerun die
Handlung – vor allem aber die Diskursfelder, aus denen hier geschöpft wird.
Das umkämpfte Britannien wird mit seinen Worten ein „Erlebnis-Raum zum
Ausprobieren von Machtsituationen“, die sozialen Spielregeln stammen vom
„Amt für Normales und Gegennormales“, irgendwo soll es auch ein
„Unwahrheitslabor“ geben, das sich mit dem Populismus der anrückenden
Sachsen befasst.
Tja, ein „Wimmelbild“ hatte das Programm bereits angekündigt – wobei dem
produktiven Chaos zumindest Übertitel der (übrigens insbesondere von
Sopranistin Marysol Schalit herzerweichend schön interpretierten)
altenglischen Stücke keinen Abbruch getan hätten. Man darf sich überhaupt
ein bisschen wundern, wie selbstbezogen so ein Theaterabend in der
Kunstbubble herumflirren kann und dabei dermaßen sendungsbewusst von Macht-
und Partizipationsfragen palavert.
Zwischen Purcells berühmten Arien gibt Schorsch Kamerun immer wieder auch
Eigenkompositionen zum Besten. Einen „Kanonenwalzer“ zum Beispiel, den
Emmeline-Darstellerin Annemaaike Bakker singt. Auf die von Schorsch Kamerun
schon mit Die goldenen Zitronen eingeübte Weise klingt das ringend und
klagend – arbeitet sich so präzise wie staksig an großen Worten ab, immer
bis zum nächsten Reim: „Ich rede nicht mehr mit Präsidenten / War so lang
schon diplomatisch / Werd’ das Palaver nun beenden / Ist mir einfach zu
erratisch.“ Und von wegen Gegenwärtigkeit des Stoffs, es geht direkt weiter
mit dem Pazifismus, der aus der Zeit gefallen sei, „darum sprechen nun die
Kanonen.“
Ach, und um dann doch kurz noch auf die Könige sprechen zu kommen: Die sind
extrem verdichtet auf so handgreifliche wie anspruchsvolle Widersprüche.
Ehrwürdig und stupide kommt etwa Guido Gallmann als König Arthur daher, so
knuffig wie durchtrieben Matthieu Svetchine als Sachsenkönig Oswald. Dass
Gloria Brillowska die Roben der beiden wie Star-Trek-artige
Fremdweltfürsten designt hat, macht die Sache sogar noch ein bisschen
schöner.
## Solange man nicht alles beim Wort nimmt
Solchen Reibungen im Inneren gegenüber steht eine sonderbare Harmonie im
Zusammenspiel der Elemente: Selbst die knarzigen Electro-Soundscapes von
PC Nackt fügen sich bemerkenswert stimmig ein ins Barockorchester unter
Leitung von Purcell-Experte Lutz Rademacher. Auch im Schauspiel wandern vor
allem die überragenden Nebenfiguren wie selbstverständlich zwischen
Bühnenraum und Theatervorplatz hin und her – schlagen den Bogen zwischen
Ensemble und Performance-Studierenden, als wäre hier wirklich alles eins.
Das alles klingt gut und ist es auch. Solange man nicht alles beim Wort
nimmt und auch damit leben kann, die Sprache sozialpolitischer Theorie
einfach mal Sound sein zu lassen. Denn es ist vielleicht der Punkt –
vielleicht auch nicht –, dass es eben keinen Punkt gibt, sondern nur
laufende Prozesse und offene Machtfragen. Das ist freilich keine Entdeckung
von Schorsch Kamerun, sondern vielmehr die Existenzgrundlage von Theater
schlechthin. Aber lustig ist es schon, diese Basisbanalität mal wieder so
richtig ausrasten zu sehen.
31 Oct 2022
## LINKS
[1] /Schorsch-Kamerun-am-Residenztheater/!5867074
[2] /Urauffuehrung-am-Deutschen-Theater-Berlin/!5880565
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
## TAGS
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