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# taz.de -- Debütalbum der Band Raison: Fliegen und dafür Bäume pflanzen
> Die Hamburg-Berliner Band Raison ist ein neues Projekt der Goldenen
> Zitronen. Am 19. Juni stellen sie ihr Debütalbum „So viele Leute wie
> möglich“ vor.
Bild: Sehnsucht nach dem Kollektiv: (v.l.) Mense Reents, PC Nackt und Schorsch …
Automaten hören nicht auf, Autokraten hören nicht auf. Ordnung und Orden
hören nicht auf, gegeben zu werden“, konstatiert Schorsch Kamerun in einer
elektronisch unterfütterten Postpunk-Litanei auf dem Debütalbum des von ihm
mit betriebenen Hamburg-Berliner Bandprojekts Raison. Wenn es also, wie im
Text durchexerziert, gar kein Ende gibt, ist die menschliche Existenz zwar
konstant bedroht, aber die Apokalypse tritt wohl doch nicht ein. Immerhin!
Positiv gedreht bedeutet das Nichtaufhören auch Weitermachen: Das gilt
speziell auch für [1][Schorsch Kamerun, bekannt geworden als Sänger der
Hamburger Diskurs-Punkband Die Goldenen Zitronen, inzwischen längst als
Theatermacher] und Autor tätig. Und so etwas wie der basalste Musikkönner,
Texter und Sänger in einer Person.
Raison hat er zusammen mit Mense Reents und PC Nackt gestartet. Ihr
Debütalbum „So viele Leute wie möglich“ ist soeben beim Hamburger Label
Buback erschienen. PC Nackt betreibt in Berlin das Studio Chez Chérie und
[2][Mense Reents, ebenfalls Mitglied der Zitronen und eine Hälfte von Die
Vögel, arbeitet in Hamburg als Produzent (etwa für Sophia Kennedy]).
Remember: 1986 veröffentlichten Die Zitronen mit „Am Tag, als Thomas Anders
starb“ einen Skandalhit in der alten BRD. Hätten sie damals nicht der
Majorlabel-Versuchung skeptisch gegenübergestanden, wären sie
wahrscheinlich heute so etwas wie Die Ärzte. „Weitermachen!“ ist als Losung
auf dem Grabstein des US-deutschen Philosophen Herbert Marcuse
eingemeißelt. Erschien ihm das wirklich so einfach?
Marcuse starb 1979, zur Blütezeit von Punk und Zukunftslosigkeit in
Westdeutschland. In England war Punk 1979 schon wieder Geschichte, er kam
mit Zeitverzögerung aufs europäische Festland. „There is no future in
England’s dreaming“, hieß es in einem Song der Sex Pistols, zu deren Musik
Schorsch Kamerun damals in seinem norddeutschen Ostseenest in die
Kfz-Mechaniker-Lehre ging.
## Schnittmenge zu Fridays for Future
Anders als die Pistols mit „No Future“ propagierten, trat die Zukunft dann
doch ein, wenigstens wurde keine Wasserstoffbombe gezündet. Bloß
Verbrennungsmotorfetischist*innen hörten nicht auf, für ihre Autos
zu werben. „Hier gibt es eine interessante Schnittmenge zu Fridays for
Future, denen ich mich durchaus verwandt fühle. Unser Slogan als Punker war
es Ende der 1970er, zu sagen: Fickt euch mit eurem Zukunftsbild. Das war
damals gelungen irritierend, braucht aber das heutige Update“, sagt
Schorsch Kamerun im Gespräch mit der taz.
Und schiebt hinterher: „Die Heutigen wollen richtigerweise radikal besseres
Regieren, wir fanden Regieren per se scheiße. Beides ganz geil.“ Die Sex
Pistols spielten 1977 gegen das silberne Thronjubiläum von Königin
Elizabeth II. auf einem Boot, das die Themse in London entlangtuckerte, und
wurden dafür verhaftet.
„Working Royals“, war kürzlich, anlässlich des 70-jährigen Thronjubiläu…
der britischen Regentin zu erfahren, nennen sich heute Angehörige der
Königsfamilie, die repräsentativ stundenlang lächeln. Was bedeutet es für
Linke, wenn selbst die Windsors Arbeiterklasse sein wollen? Die Songtexte
von Raison drehen sich um linke Themen wie Solidarität, Miteinander, das
Fließen und Mischen, Schwärmen und Handhalten. „Musik kann alles! Strategie
= Phantasie!“, heißt es in einem kleinen Manifest, das dem Album beigegeben
ist.
## Agitpropsong in melancholisch
Ein Ton-Steine-Scherben-Cover darf auch nicht fehlen, aber es darf
keinesfalls klingen wie das Original von Ton Steine Scherben. Ihr
Signalsong „Allein machen sie dich ein“ wird inzwischen gegen den Willen
der verbliebenen Scherben-Musiker*innen auf Querfront-Demos gespielt.
In der Version von Raison, die diese freche rechtsradikale Aneignung
mitreflektiert, klingt der Agitpropsong fast gebrechlich, melancholisch,
ein Wimmern.
„Hätten wir versucht, ihn zu rocken, wär’s schnarchig gewesen. Es darf
nicht sentimental klingen, sondern braucht ein fortlaufendes Interesse, wie
sich der Wunsch nach der gemeinsamen Intervention erzählen lässt. Jetzt
stur Punk zu bollern und zu glauben, dass das ein funktionierender
Angriff ist, ist ja erbärmlich und minder pfiffig zugleich.“
Der Titel des Raison-Albums hätte auch „Ambivalent“ lauten können, sagt
Schorsch Kamerun. „‚So viele Leute wie möglich‘, das klingt nach
Werbeslogan und ist zugleich Wachstumskritik. Aber Elon Musk will das
auch, und Wolodomir Selenskj, der ist wegen des Kriegs dazu genötigt. Es
geht immer um Aufrechterhalten von Aufmerksamkeit, den Kampf ums Framing.
Und klar ist es auch ein Wunsch nach Teilhabe und Gemeinschaft, die
zutiefst verwundbar ist.“
Die Sehnsucht ist bei Raison noch da, auch der Traum des Kollektiven. Und
die Hoffnung, dass es „Momente ohne Rassismus“ gibt, wie ein Lied des Trios
heißt, das auf einer Anekdote der Schwarzen Schauspielerin Yodit Tarikwa
beruht.
## Brüder Grimm mit Drummachine
Die Sehnsucht, unbeachtet bleiben zu dürfen. Und die Sehnsucht, dass
Eigenwilligkeit nicht weggestraft wird, wie in dem Märchen vom
„Eigensinnigen Kind“, ein Brüder-Grimm-Cover mit simpler Synthmelodie und
Drummachine – wann wäre postmoderner Krautrock als Mittel angemessener als
in der Musik von Raison?
Im Text lässt Gott das Kindchen sterben, weil es nicht tut, was seine
Mutter will. Und das Kind, in seinem Eigensinn, streckt noch aus dem Grab
sein Ärmchen hinaus, bis die Mutter es endgültig mit einer Rute unter die
Erde prügelt. Von denen lebt ziemlich sicher niemand mehr heute, immerhin:
ein Ende. Und ein surreales Lied, wie da Grimm’sche Sprache und Raison’sche
Soundcluster ineinanderfinden.
Anders als die Musik der Zitronen will die Musik von Raison eine zum
Nebenbeihören sein, das Trio nennt als Referenzen: The Notwist,
Minimalismus und Brian Eno. Die Stücke wirken räumlich, immersiv, sind eher
rauschende Texturen als Ohrwürmer. Das utopische „Driften“ mit Sophia
Kennedys Gesang ist sprechend betitelt. Aber für die dissident-dissonante
Klangtapete beißen die Texte dann doch ein wenig zu hart.
## Ein Grabstein spricht
Gegenwartsbeobachtungen gibt es viele, bei Raison geht es, ohne dass es zu
explizit wird, um den Zustand der Linken zwischen Klimakrise, Coronaleugnen
und russischem Angriffskrieg. „Wir leben in einer unübersichtlichen Zeit,
dadurch lässt es sich gut extra direkt sein. Ich weiß doch genau, was Fake
ist und was nicht, das wissen im Grunde alle“, so Schorsch Kamerun.
„Nur, man missbraucht das in unserer Kompensationsbubble: Darf ich fliegen,
wenn ich dafür einen Baum pflanze? Kann ich ein Tier essen, wenn es grün
ausgewiesen ist auf der Tierwohlampel? Nato fanden wir scheiße, aber man
hat sich bequem in der Feindschaft eingeschnuckelt. Ich glaube, wir
brauchen eine real wählbare, attraktive Superzurücknahme gegen unendliches
Wachstumsdiktat mit anhängender Allroundmogelei.“
„Weitermachen!“, sagt ausgerechnet ein Grabstein. Was auch sonst.
18 Jun 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Steffen Greiner
## TAGS
Pop
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