| # taz.de -- Musiktheater von Schorsch Kamerun: Singen stärkt das Gemeinwohl | |
| > Mit „Der diskrete Charme der Reduktion“ schickt Schorsch Kamerun das | |
| > Publikum im „Vollgutlager“ Berlin durch einen Parcours der | |
| > Nachdenklichkeit. | |
| Bild: Annemaaike Bakker vor einem großen gelben Gummiball in „Der diskrete C… | |
| „Irrweg der Menschheit“ ist der Titel eines Essays, verfasst vom | |
| italienischen Philanthropen Aurelio Peccei und dem schottischen Chemiker | |
| Alexander King. Als Grundübel des scheinbar unendlichen | |
| Wirtschaftswachstums machten sie darin 1968 fehlendes Verantwortungsgefühl | |
| für die Zukunft des Planeten Erde geltend. | |
| Jener „selbstmörderischen Ignoranz“ setzten sie dann mit Gründung des | |
| Thinktanks [1][„Club of Rome“] fundiertes Wissen entgegen. Ihre | |
| Grundüberlegungen sind anlässlich des fortschreitenden Klimawandels | |
| dringlicher denn je: Ihre Forderung ist, eine globale und langfristig | |
| gültige Perspektive zum Schutz der Umwelt zu entwickeln und diese um eine | |
| Reihe sich gegenseitig bedingender ökonomischer, ökologischer und | |
| sozialpolitischer Problemlösungen von Industrialisierung, | |
| Bevölkerungswachstum und Ernährung zu ergänzen. | |
| „Wie lange wollen wir noch weiterwuchern“, fragt [2][Regisseur Schorsch | |
| Kamerun] mit Blick auf die aus allen Nähten platzenden Städte und stellt | |
| jenen „Irrweg der Menschheit“ in seiner im Auftrag der Komischen Oper | |
| Berlin inszenierten begehbaren Konzertinstallation namens „Der diskrete | |
| Charme der Reduktion“ als rhapsodisches Unlustspiel dar. | |
| ## Wie einst bei TV-Show „Spiel ohne Grenzen“ | |
| Darin sind die Trennung zwischen Bühne und Publikum, Hoch- und Popkultur | |
| beseitigt. Austragungsort ist im Neuköllner Rollbergkiez, das Vollgutlager | |
| mit seinem Fertigungshallen-Ambiente. Dort hat Kamerun einen Parcours | |
| aufgebaut. Dessen Stationen erinnern an Geschicklichkeits-TV-Shows wie | |
| „Spiel ohne Grenzen“. | |
| Was mit seiner Band [3][Die Goldenen Zitronen] beim Schaumbaden im Exzess | |
| oft lässig wirkte, fühlt sich nun bei Kameruns Überlegung, wie sich der | |
| ökologische Fußabdruck reduzieren ließe und dem Fair-Trade-Siegel zu | |
| entsprechen wäre, eher melancholisch und manchmal auch zerknirscht an. | |
| Kamerun unterlässt jeden Anflug von Weinerlichkeit, an verschiedenen | |
| Stellen taucht er als Conférencier auf und macht das, was er gut kann: | |
| Unsympathen aufzählen, wie Autokraten, Stammtischpolitiker und Panikmacher, | |
| „die nicht aufhören“, bis endlich ein Fagott-Solo ertönt; zwischendurch | |
| ruft er Denkfiguren ab, wie das Punkurviech im Nietengürtel, das sich eben | |
| keine Gedanken über ungerecht verteilten Wohlstand macht, sondern sein | |
| Hefeweizen stur weitertrinkt. | |
| ## Paraderolle das verrückte Huhn | |
| „Der diskrete Charme der Reduktion“ bietet Musik, Choreografie, Texte und | |
| serielles Erzählen komprimiert auf Konzertlänge. Als Sänger der Goldenen | |
| Zitronen ist das verrückte Huhn eine Paraderolle Kameruns. Auch diesmal | |
| hechelt er oft und sorgt bei aller dargestellter Alternativlosigkeit damit | |
| gelegentlich für Heiterkeit. | |
| Neu arrangierte Songs aus dem Repertoire der Zitronen stehen neben der | |
| Bach-Kantate „Ich habe genug“, Standards aus dem Theaterfundus (alles wird | |
| auf einer Leinwand übertragen und somit medial vermittelt) und der | |
| Arrangement-Glanzleistung des Komponisten PC Nackt (und Partner von Kamerun | |
| beim Projekt Raison). | |
| PC Nackt hat Musik und Geräusche auf der Tonspur in Fluss gebracht und | |
| führt diese mit sieben Musiker:Innen aus dem Ensemble der Komischen | |
| Oper Berlin auf. Das Publikum, versehen mit blau leuchtenden drahtlosen | |
| Kopfhörern, wandert im Kreis durch dieses Resilienzgeschehen. Es muss | |
| navigieren zwischen rollenden gelben Gummibällen, grünen Wachhäuschen, in | |
| denen mal Kamerun als Nachtwächter Thomas Sehl (so sein bürgerlicher Name) | |
| amtet, mal der Tenor Ivan Turšić singt und die holländische Schauspielerin | |
| Annemaaike Bakker Zeilen deklamiert wie „Natur verhandelt nicht, sie stellt | |
| Fakten auf“. | |
| ## Zierbäume umdrapieren | |
| Ein Haufen Umzugskisten, die immer aufs Neue gestapelt werden, Zierbäume | |
| auf einem Podest, die umdrapiert werden, alte Modepuppen und ein mobiles | |
| Labor, in dem Weißkittel in der Petrischale Substanzen untersuchen, stehen | |
| als Hindernisse im Weg. Dazwischen strampelt sich ein Michelin-Männchen ab. | |
| Sogenannte „Goethe-Ameisen“ singen catchy von „Psycho, Panik, Plastik“, | |
| während Kamerun über Müllkippen und Kinderkrippen sinniert und Gedanken von | |
| Neuköllner Bürger:Innen zum Charakter des Viertels wiedergibt, das von | |
| ihnen „als sehr durchwachsener Ort“ empfunden wird. | |
| „Wenn Raum allen gehört, wer kümmert sich dann um den öffentlichen Raum?�… | |
| fragt Kamerun einmal. Der ehrenamtliche Neuköllner Richardchor führt | |
| kongenial vor, dass auch Singen das Gemeinwohl stärkt. | |
| Etwas off-topic dagegen wirkt Kameruns Exkurs zum Pazifismus, den er | |
| angesichts des Ukrainekriegs als „aus der Zeit gefallen“ besingt. Man | |
| möchte ihm recht geben, nur, nach den vielen Anklängen an „die Grenzen des | |
| Wachstums“ und die Auswüchse des Klimawandels in Neukölln, ist die | |
| Aufzählung von Panzertypen wie Marder in diesem Zusammenhang zu viel des | |
| Gutgemeinten. | |
| Die Musikauswahl war ansonsten stimmig: Zum Finale kann dem | |
| Zitronen-Evergreen [4][„Wir verlassen die Erde“] das kammermusikalische | |
| Setting nichts anhaben, was einmal mehr für die Nachhaltigkeit des Songs | |
| spricht. Der Richardchor bekommt am Ende den meisten Applaus. | |
| 21 Feb 2023 | |
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| [3] /Neues-Album-von-Die-Goldenen-Zitronen/!5567207 | |
| [4] https://www.youtube.com/watch?v=heQNQ-AR4VI | |
| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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