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# taz.de -- Neues Stück von Schorsch Kamerun: Kein Zutritt für Jugendliche
> Am Theater Lübeck erzählt Schorsch Kamerun in „Cap Arcona“ vom Andersse…
> und von Geschichtsfälschung. Es ist sein bislang persönlichstes Stück.
Bild: Musik spielt in Schorsch Kameruns Stück „Cap Arcona“ eine große Rol…
„Cap Arcona“ kündigt ein Aushang fürs Februar-Programm am Theater Lübeck
an, inszeniert vom [1][Goldene-Zitronen-Sänger] Schorsch Kamerun. Selbiger
wartet bereits vor dem Theater in blauer Funktionsjacke wie Mütze, gut
gewappnet für das norddeutsche Schietwetter. Mit einem „Moin“ wird gegrü�…
bevor es durch die Straßen Lübecks geht. Kamerun, der 1963 unweit von hier
in Timmendorfer Strand geboren wurde und aufwuchs, kennt die Hansestadt
gut. Er geht schnell, fast ein bisschen gehetzt, später bei einem Kaffee
verrät er, dass es für ihn nie ganz einfach sei, in diese Gegend
zurückzukommen.
An der Königstraße in der Lübecker Altstadt deutet Kamerun auf einen
imposanten Bau; eine gerade frisch geschlossene Karstadt-Filiale, die erste
nach dem Gründungsgeschäft in Wismar. 140 Jahre lang prägte Karstadt hier
das gutbürgerliche Stadtbild. Auch Kamerun und seine Freund*innen kamen
hierher, hingen als Punks aber eher in den umliegenden Straßen ab, im
Alternative e. V., einem autonomen Kulturzentrum, oder im Tipasa, einem der
wenigen Lokale, aus denen sie nicht gleich wieder rausgeschmissen wurden.
„Der sogenannte Fremdenverkehr sollte geschützt werden“, alles, was das
Bild der Ostseebadidylle störte, musste draußen bleiben, so beschreibt
Kamerun sein Aufwachsen im Schleswig-Holstein der 1970er und 80er Jahre.
„Jugendliche und Hunde haben keinen Zutritt“, mit so einem Schild hielt man
sich in einem Café die unbequeme Jugend vom Leib. Der Satz wirkt bis heute
merklich nach bei Kamerun. „Nicht gewollt, nicht als Teil der Gesellschaft
anerkannt zu werden und sich im Umkehrschluss auch nicht als Teil ihrer zu
sehen, das hat mich schon geprägt“, sagt Kamerun.
Gründung des Pudel Club
War man nicht Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, im Schützen- oder
Fußballverein, gehörte man nicht dazu: „Anders sein war nicht angesagt“,
beschreibt Kameruns Freund [2][Rocko Schamoni] dieses Aufwachsen in seinem
Roman „Dorfpunks“. Schamoni wie Kamerun verschlug es später nach Hamburg,
wo sie sich mit ähnlich Gesinnten zusammentaten und unter anderem den
legendären [3][Pudel Club] gemeinsam eröffneten.
Als SH-Punks (SH = Schleswig-Holstein) aber gehörten sie zu den
Außenseitern hier im Norden, wehrten sich gegen ewig gestrige
Stammtischparolen, gegen Gewalt, die in den kriegsgeschädigten Familien
weitergetragen wurde, und gegen das, was im Sinne des Fortschritts
vergessen werden sollte.
So etwa die Geschichte um die „Cap Arcona“, von der Kamerun sagt, sie habe
ihn politisiert. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges, am 3. Mai 1945,
versenkte die britische Luftwaffe zwei Schiffe, die damals unweit von hier
in der Lübecker Bucht ankerten. Eines davon war die „Cap Arcona“.
Ursprünglich als Passagierschiff zwischen Hamburg und Südamerika
eingesetzt, wurde sie in der NS-Zeit für militärische Zwecke
zweckentfremdet.
Nur 450 konnten sich retten
Kurz vor Kriegsende siedelten die Nazis um die 7.500 Gefangene aus dem KZ
Neuengamme bei Hamburg um, verteilten sie an Bord jener Schiffe in der
Lübecker Bucht. Da die britische Luftwaffe davon ausging, an Bord würden
sich deutsche Truppenverbände und SS-Größen befinden, die sich per
Schiffsweg ins neutrale Norwegen abzusetzen drohten, wurden die Schiffe
versenkt – und mit ihnen die Mehrheit der bereits geschwächten Gefangenen.
Nur etwa 450 von ihnen gelang es, sich an die umliegenden Strände zu
retten.
Noch Monate nach Kriegsende spülte es Leichen an die Ostseestrände, kein
schönes Erlebnis, wie Kameruns Mutter ihm später erzählte. Interessiert an
den Umständen, die [4][zum tragischen Ende der „Cap Arcona]“ führten,
schlug Kamerun das Thema in der Theater-AG seiner Schule vor. „Welche,Cap
Arcona'?“ – das nüchterne Desinteresse seines Lehrer steht für Kamerun
exemplarisch für Ignoranz und Geschichtsklitterung, die er nicht nur als
gegenwärtiges Problem sieht. „Historiker gehen davon aus, dass der Angriff
auf die Schiffe seitens der Nazis kalkuliert war und man so die KZ-Insassen
und potenzielle Zeugen loswerden wollte“, sagt er.
Während das folgenschwere Ereignis in Kameruns Jugend im Unterricht nie
thematisiert wurde und auch darüber hinaus kaum Beachtung fand, wird sich
heute um mehr Aufklärung bemüht. 2021 erschien auf der Plattform Podigee
ein zweiteiliger Podcast zur Geschichte der „Cap Arcona“, produziert von
den Neustädter Journalist*innen Jens Westen und Christina Mänz. Auch
ein Dokumentationszentrum soll in Neustadt in Holstein entstehen.
Erinnerung an die Schiffskatastrophe
Ein Antrag auf Finanzierung sei bereits bei der Beauftragen der
Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth (Grüne), eingereicht
worden, wie die Lübecker Nachrichten berichten. Besonders Schüler*innen,
die mit ihren Klassen ins Neustädter Zeittor-Museum kämen, wo einige
Exponate an die Schiffskatastrophe erinnern, seien sehr interessiert, mehr
über die Zusammenhänge zu erfahren, heißt es dort weiter.
Junge Menschen bekommen auch bei Kamerun eine Hauptrolle: In seiner
Inszenierung steht eine Gruppe Jugendlicher im Mittelpunkt. Auf dem von
Bühnen- und Kostümbildnerin Katja Eichbaum zum Tennisplatz umgewandelten
Spielraum hängen sie herum – chillen –, bis autoritär auftretende
Lehrkräfte (gespielt von Jan Byl, Sonja Cariaso, Will Workman) sie
wegscheuchen.
Abgesperrte Strandkörbe, abmontierte Parkbänke und ein Gerät mit dem Namen
„Mosquito“, das hochfrequentierte Töne abgibt, die für junge Menschen gut
vernehmbar sind, sollen die Jugend hier und überall sonst am unproduktiven
Rumlungern hindern. Aufmerksame Zuschauer*innen werden auch das
Verbotsschild für Jugendliche und Hunde entdecken, das Kamerun für seine
Inszenierung hat nachdrucken lassen.
Erstengagement für Luisa Böse
Dazwischen sinniert Luisa Böse als Stephanie aka Feuersalamander über die
Ungerechtigkeiten der Welt und die Ignoranz der Erwachsenen, die es sich in
ihrem Heim allzu gemütlich eingerichtet haben und Dinge wie „in einem
gesunden Körper steckt ein gesunder Geist“ von sich geben. Für Böse, die
ihr Fernsehdebüt vergangenes Jahr im [5][Bremer „Tatort]“ feierte, ist es
ihr Erstengagement am Theater Lübeck, dessen Bühne sie schon bei den Proben
gekonnt für sich einzunehmen weiß.
Kameruns Text ist eine Collage, enthält neben Zitaten, die aus seiner
Jugend stammen und die vor Verachtung für alles „Anders- oder Fremdartige“
strotzen, auch Hinweise auf die Gegenwart. So etwa [6][Friedrich Merz’
lächerliche wie jeder Grundlage entbehrende Aussagen über Zahnarzttermine]
blockierende Asylbewerber*innen. Hier zieht Kamerun eine Parallele zwischen
seiner Jugend und der heutigen und zeigt, dass sich Mentalität und
Ansichten vielerorts trotz all den Jahren nicht grundlegend verändert
haben.
Donnerndes Klavier
Wesentlicher Bestandteil ist in „Cap Arcona“, [7][wie schon in früheren
Stücken Kameruns], die Musik. An seiner Seite Komponist und
Multiinstrumentalist PC Nackt, der neue Texte sowie
Goldene-Zitronen-Klassiker mal mit donnerndem Klavier unterlegt oder sie
von einer Band im Hintergrund tragen lässt.
„Dass ich immer nur weg will von euch, macht mein Leben zu schnell“,
zitiert Kamerun seinen eigenen Text. Auf der Bühne wirkt er dann gar nicht
mehr gehetzt, nimmt sich Zeit, obwohl die Premiere naht. Es ist sein erstes
Stück in der alten Heimat und gleichzeitig sein persönlichstes. Hier etwas
von der Ruhe finden, die in der Jugend fehlte, erscheint Kamerun aber
weiterhin als trügerisch. Mit seiner lang ersehnten Inszenierung von „Cap
Arcona“ wirkt es, als lässt sich das heute immerhin laut aussprechen.
15 Feb 2024
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[4] /Cap-Arcona-Katastrophe-vor-75-Jahren/!5679437
[5] /Tatort-aus-Bremen/!5922944
[6] /CDU-und-Zahnbehandlungen-fuer-Gefluechtete/!5959412
[7] /Musiktheater-von-Schorsch-Kamerun/!5917562
## AUTOREN
Sophia Zessnik
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